Tagebuch 2003/2004

Tagebuch 2003/2004 als PDF lesen

„Die Dinge schlecht benennen, heißt das Unglück der Welt mehren."
Albert Camus
  

„Liebes Tagebuch!

Ich schreibe in dich hinein alle meine Sorgen und Nöte, meine Freude mein Leid und auch meine Liebe und Sehnsucht.

Du allein sollst erfahren wie es in mir aussieht und was ich denke und fühle.

Du sollst mein treuer Freund und Geselle sein oder schweigen kann wie das Grab.“

Eingangssätze aus dem Tagebuch unserer Schwester Traudel Baumert

  

Der Leser und die Leserin des Tagebuchs wird sehr schnell feststellen, dass dies Tagebuch kein ganz persönliches ist. Wie sollte es das auch im Internet sein.

Das Tagebuch, wie wir es aus unseren Kindertagen kennen, aus der Literatur oder aus dem Film ist ein ganz persönliches Tagebuch. Ihm werden die intimsten Mitteilungen aus dem Leben des Schreibers oder der Schreiberin anvertraut und nur ihm. Was war es für ein Treueverrat, wenn Eltern, Lehrer oder sonstige Unbefugte ein Tagbuch widerrechtlich an sich nahmen und, schlimmer noch – es lasen. Im Tagebuch gilt und galt das, was bürgerrechtsliberale Politiker für unsere Wohnung einklagen: die absolute Unverletzlichkeit der Privatsphäre.

Ein Tagebuch, das auch nur ansatzweise mit dem Verrat des Geheimnisses des Tagebuch-Schreibenden kokettiert, ist Tagebuch-Nonsens. So sind viele Tagebücher von Schriftstellern oft nur die
Darstellung eigener Eitelkeit, geschrieben zum Nachruhm, für die eigene Beweihräucherung. Da hat einer schon zu Lebzeiten dafür gesorgt, wie die Nachwelt über ihn zu denken – und: zu richten? – hat.

Ein Tagebuch, das öffentlich gemacht wird, nicht nur Jahre nach dem Tod des Tagebuchschreibers, sondern im Falle eines Internet-Tagebuchs oft nur wenige Minuten nach Verfassen des Tagebuchs, kann diesen Platz der Intimität nicht wahren.

So ist dieses Tagebuch, obwohl in ihm auch immer wieder intime Bekenntnisse des Autors auftauchen, mehr ein Kaleidoskop des Lebens, eine Sammlung gefundener Schnipsel, Blätter, ein Konvolut von Meinungen, Gedichten, Songs und Erinnerungen, die uns daran erinnern werden, eines Tages, was es hieß, Zeitgenosse zu sein: Mitzuleben, mitzufühlen, mitzudenken was der Welten Lauf uns bringt. Dass darin die Betrachtung über die Biene, den Flug der Polle oder andere Blüten des Lebens beschrieben werden – jede Leserin wird es
feststellen. Nur, dass die Biene der Herrscher in der Verblendung seiner Macht ist, der Flug der Polle der vertriebene Flüchtling und die Blüten des Lebens oft nur die Waffen sind, den Anderen zu töten.

„Innocent? Innocent – of what?“ (George Steiner über DIE Frage im Western).

Dieter Emil Baumert

2004-05-13

  

Auch bei diesem Tagbuch gibt es Seltsamkeiten. Einige will ich benennen, einige erklären.

Aus der Vielzahl von Begebenheiten wähle ich aus: meistens sind es Kommentare, Meldungen, Nachrichten aus der Welt, die mir wichtig erscheinen.

Sie kommen daher in der Form von gedruckten Zeitungsseiten, oder als Seiten eines Buches. Die anderen, nicht weniger wichtigen, aus TV und Radio kommen hier zu kurz. Es müsste eine direkte Verbindung von einem Gehirn zu meinem Tagebuch bestehen, sodass auch da die Sequenzen der Filme, der Töne, der Bilder auftauchen würden.

Und würde dieses Tagebuch wirklich mein Leben widerspiegeln, wären darin auch die Geräusche, das Rauschen des Windes über den Ährenfeldern, das Rauschen des Meeres, der Song des Bluesmusikers und die Gefühle des Liebenden zu spüren. Sie sind es in diesem eindimensionalen Medium nicht und deswegen ist dieses Tagebuch
nur eine Skizze – Welten entfernt vom wirklichen Leben.

Aus den ausgewählten Notizen kommen am Schluss vielleicht nur ein zehntel ins Tagebuch. Zu lange würde es dauern, dies abzuschreiben und zu teuer würde das alles werden – schließlich muss ich diese Arbeiten, mangels eigenen Könnens – von fremder Hand verrichten lassen.

Dann gibt es natürlich solche Seltsamkeiten, dass Weltereignisse einfach nicht vorkommen: Tausende und Abertausende von Toten im Iran nach einem Erdbeben – sie tauchen in meinem Tagebuch nicht auf. Warum? Sind diese Menschen mir unwichtig? Ja, warum nicht?

Es stimmt zwar nicht, aber irgendwie hat mich die Vielzahl von Toten nicht berührt. Vielleicht weil nicht ein Großer seine großen Gedanken dazu vermittelt hat, vielleicht, weil das Ereignis in meinem Leben verbucht wird, verbucht, Mann höre des Buchhalters Sprache, unter Schicksal. Vielleicht, weil es mich nicht interessiert – Naturkatastrophen. Vielleicht, weil ich es leid bin, von Mahnungen zu hören, man hätte doch rechtzeitig gewarnt, hätte anders bauen können, hätte anderswo leben können, hätte, hätte,
hätte.

Das ganze Tagebuch ist – auch – ein Versuch, den Mängeln der hiesigen Presse entgegenzuwirken. Mit ihrer unsäglichen,
blödsinnigen, bornierten Sichtweise auf das Aktuelle: der wichtige – na, zumindest für mich wichtige – Text über xyz ist nur wenige Wochen, im Einzelfall wenige Monate im Netz. Und dann verschwindet er im Orkus des Vergessens. Viele Texte werden erst gar nicht geadelt mit der Publizierung im Web – sie verschwinden gleich im Papierkorb – „Nichts ist so alt, wie die Zeitung von Gestern.“ Na ja. Zum Glück denkt der Mensch weiter als bis zur nächsten Ampel…

Dieter Emil Baumert

17. Mai 2004
christlicher Zeitrechnung

  

Die Tagebucheinträge sind in aufsteigender Form angeordnet, der neueste steht also am Anfang. Zur besseren Lesbarkeit habe ich die Texte nach Monaten gegliedert.