Der alte Traum vom Weltbürger

Montag, 19. Mai 2003

Die weltweite Friedensbewegung – im Lichte der Visionen von Immanuel Kant und Stefan Zweig.

Ein Essay von Till Bastian

www.publik-forum.de/aktuell/SUB_AKT2.HTM

Der Dichter Stefan Zweig hat 1914 den Beginn des Ersten Weltkrieges miterlebt. Den Ausbruch massenhafter Kriegsbereitschaft wertete er so: "Wie nie fühlten Tausende und Hunderttausende Menschen, was sie besser im Frieden hätten fühlen sollen: dass sie zusammengehörten."

Krieg und Pathos gehören traditionell zusammen; der Nationalstaat hat diese Verbindung zementiert. Aber die weltweite Friedensbewegung des Jahres 2003, bei der sich Millionen Menschen von Kanada bis Indonesien engagiert haben, um einen drohenden Waffengang zu verhindern, zeigt, dass es friedliche Gefühle des Zusammengehörens gibt – jenseits der Nationalstaaten. Die Friedensbewegung ist ein großer Schritt zu jenem Weltbürgertum, das Stefan Zweig vorschwebte. Es beruht auf der Erkenntnis, dass weniger Diplomatie und Verträge als vielmehr Bindungen zwischen den Menschen dem Krieg dauerhaft entgegenwirken.

Welche Motive zu diesen Bindungen und Gefühlen beitragen und welche Kräfte ihnen entgegenstehen, verdeutlicht vor allem das Werk von Immanuel Kant, der weltweit als größter Philosoph deutscher Sprache gilt. In seinem Aufsatz "Zum ewigen Frieden" formulierte Kant 1795 drei "Definitivartikel" eines ewigen Friedens. Im ersten fordert er, dass die Verfassung aller Staaten republikanisch sein und auf Gewaltenteilung fußen solle; im zweiten, dass sich die Staaten der Erde zu einer Föderation, einem "Völkerbund", zusammenzuschließen hätten.

Zweihundert Jahre später ist die Welt diesen Zielen sehr viel näher gekommen. Von den 187 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen ist eine große Zahl zumindest dem Buchstaben nach republikanisch; zu Kants Zeit konnte man dies nur von den Vereinigten Staaten von Amerika und vom vornapoleonischen Frankreich sagen. Und die von Kant angeregte Föderation ist gemäß den berühmten "14 Punkten" des US-Präsidenten Woodrow Wilson (formuliert zum Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg) mit dem "Völkerbund" des Jahres 1919 entstanden; 1945 wurde sie als "Vereinte Nationen" neu begründet. Kant hat sich als prophetischer Realist erwiesen, obschon auch er seinerzeit einräumen musste, dass wohl jede Friedensphilosophie "allgemein verlacht" werde.

Dennoch ist die Welt noch nicht friedlich geworden. Gerade deshalb ist auch Kants „Dritter Definitivartikel“ wichtig. Darin forderte er ein „Weltbürgerrecht“ – „vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern sich doch neben einander dulden müssen.“

Kant wusste genau, welche Art von Realpolitik dem Weltbürgerrecht“ entgegensteht. Anders als der Zeitgeist hatte er einen klaren Begriff von der Brisanz jener Verhältnisse, die man heute „Nord-Süd-Konflikt“ nennt. Vergleiche man, schreibt er, mit dem von ihm geforderten Weltbürgertum „das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich Handel treibenden Staaten unseres Weltteils, so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit“. Erwähnenswert ist, dass Kant sich den Frieden vor allem von zwei Entwicklungen erhofft hat: Von der Weltwirtschaft, der friedensstiftenden Kraft des Handels und „der Geldmacht“, desgleichen von der „Weltöffentlichkeit“, einem Gemeinsamkeitsempfinden, durch das „die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“. Unter solchen Bedingungen sei, so Kant, „die Idee eines Weltbürgerrechts keine fantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Codex, sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt“.

Insbesondere der Verweis auf die „Weltwirtschaft“ und die „Weltöffentlichkeit“ macht die innere Ambivalenz des Programms deutlich. Welthandel und „Geldmacht“ erzwingen zwar eine globale Wirtschaftsgemeinschaft, in der aber größte Ungerechtigkeit herrscht. Sie bietet auf lange Sicht genügend Anlass für Gewalttätigkeiten aller Art und Bürgerkriege. Die Unterhöhlung des Nationalstaates durch die Weltwirtschaft führt quasi zu einer „Entstaatlichung“ der Kriege, damit auch zur Entwertung der herkömmlichen diplomatischen Methoden zur Vorbeugung und Schadensbegrenzung. Ähnlich skeptisch ist die Weltöffentlichkeit zu sehen – ist sie doch mindestens partiell von mächtigen Kartellen und
Interessengruppen inszeniert; keineswegs wohnt ihr immer ein echtes Gemeinschaftsgefühl inne. Oft basiert sie eher auf sensationsgieriger Schaulust, die Goethes „Faust“ zu folgen scheint: „Sie mögen sich die Schädel spalten – Nur in der Heimat bleib’s beim Alten!“

Es bleibt festzustellen, dass der großartige Kantsche Entwurf eines Weltbürgerrechtes als entscheidender Grundlage einer friedlichen Welt noch der Verwirklichung harrt. Freilich scheint die globale Lage dafür heute in mancher Hinsicht günstiger als im Jahre 1795. Was sind aber die Gegenkräfte, die die Herausbildung eines solchen Kosmopolitentums bislang verhindert haben?

Immanuel Kants Gesinnungsethik ist jedem machiavellistischen Erfolgsdenken („Der Zweck heiligt die Mittel“) diametral entgegengesetzt. Dies wird am deutlichsten in der dritten Fassung seines kategorischen Imperatives, der (laut „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“) von uns fordert, so zu handeln, „dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“. Diese Maxime ist auch ein Umriss globaler Partnerschaft. Was aber sind die Motive, einer solchen Maxime zu folgen? Für Kant lassen sie sich nur formal bestimmen: in der ersten Fassung seines Imperatives, der gebietet, so zu handeln, dass die Maxime unseres Willens jederzeit Grundlage der allgemeinen Gesetzgebung sein könne. Dagegen ist Widerspruch laut geworden, der am schärfsten von Albert Schweitzer formuliert wurde: „Dass Pflicht, wenn ihr nicht zugleich ein Inhalt gegeben wird, ein leerer Begriff bleibt, will er nicht zugestehen“ kritisiert er an Kant. Pragmatische Einwände gegen Kants Pflichtenlehre speisen sich aus der Erfahrung, dass nicht jeder Mensch dem anderen gleich nahe steht: Für die meisten von uns hat das Überleben mancher Menschen – das eigene, das der Familie und der Freunde, oft auch der Mitbürger – mehr Bedeutung als das Überleben der übrigen Menschheit.

Wer in die gesellschaftliche Praxis schaut, stellt allerdings fest, dass dies am Anfang des 21. Jahrhunderts nicht mehr ganz stimmt: Entscheidende Anstöße für globales Handeln angesichts globaler Probleme stammen heute von Nichtregierungsorganisationen, die häufig international organisiert sind und damit Weltbürgertum und globale Partnerschaft praktizieren, ohne weitschweifig über philosophische Letztbegründungen nachzudenken. Dies lässt hoffen. Anlass zu Hoffnung gibt auch der zitierte Satz von Stefan Zweig: Hätten die Menschen schon vor Beginn des Krieges gefühlt, dass sie zusammengehören, der Krieg hätte gar nicht erst geführt werden können. Ganz ähnlich stellte übrigens Sigmund Freud kurz vor Ausbruch des nächsten Weltkriegs fest: Alles, was gefühlsmäßige
Bindungen zwischen den Menschen stiftet, wirkt dem Krieg entgegen.

Dies bedeutet nun keinesfalls, dass alles Argumentieren vergebens
sei, dass die Vernunft nichts mehr zu sagen habe. Es heißt „nur“, dass das „Prinzip Verantwortung“ – wie dies im Anschluss an Albert Schweitzer auch der Philosoph Hans Jonas deutlich betont hat – nicht nur durch vernunftbegründete Appelle herbeiargumentiert werden kann.
Vernunft und Gefühl markieren die beiden Seiten der gleichen Medaille und damit die Basis für einen ganzheitlichen Friedensbegriff, den es noch zu verfestigen gilt. Dieser ganzheitliche Ansatz fußt auf der Einheit jener drei Anwendungsgebiete der praktischen Philosophie, die schon der griechische Philosoph Aristoteles unterschieden hat und die erst durch die technokratische Spezialisierung der modernen Wissenschaft auseinander gerissen worden sind, und zwar der Ethik, der Politik und der Ökonomie. Dabei sollten wir heute, anders als Aristoteles, aber in Fortführung seiner Konzeption, noch die Ökologie als vierte Domäne lebenspraktischer Philosophie hinzurechnen. Es ließe sich auch anders sagen: Weltbürger, die sich miteinander verbunden fühlen, werden auch dem für die Moderne charakteristischen Auseinanderdriften menschlicher Lebensbereiche entgegenzuwirken haben.

Diesem Vierklang entsprechen vier Grundprinzipien, aus denen heraus sich ein radikaler Wandel des derzeitigen, rein ökonomistischen Selbstverständnisses der Industriegesellschaften fordern lässt. Es sind das Prinzip Verantwortung als ethisches Grundprinzip; das Prinzip Vorbeugung als politisches Grundprinzip; das Prinzip Nachhaltigkeit als ökonomisches und das Prinzip Anpassung als ökologisches Grundprinzip. Aus alledem wird sich auch die Notwendigkeit des Weltbürgertums zwingend ableiten lassen. Seine verpflichtende Kraft aber speist sich aus Quellen, die tiefer liegen: aus der Ehrfurcht vor dem Leben und aus dem ihr entspringendem Zusammengehörigkeitsgefühl der Biosphäre im Allgemeinen und der Menschheit im Besonderen.

Wie aber können solche Gedanken die unfreundliche Wirklichkeit infizieren? Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es eine – allerdings kurzlebige – Massenbewegung, die von dem ehemaligen US-Bomberpiloten Garry Davis initiiert worden war: Davis, 1921 geboren, hatte im Mai 1948 in der US-Botschaft in Paris seinen Pass zurückgegeben und, da er sich selbst als „Weltbürger Nr. 1“ bezeichnete, von den Vereinten Nationen die Ausstellung eines entsprechenden Ausweises verlangt. Binnen Jahresfrist hatten sich 223 801 Männer und Frauen aus 73 Ländern dieser Initiative angeschlossen; prominentester Befürworter dieses Weltbürgertums in der soeben entstandenen Bundesrepublik war der Schauspieler Viktor de Kowa. Freilich, im Zeitalter des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation hatte dieses Engagement keine Chance. Wäre nicht 55 Jahre später, Auge in Auge mit der Arroganz und dem Vorherrschaftsstreben der einzigen verbliebenen Supermacht, die Zeit reif, es mit neuem Leben zu erfüllen?

Till Bastian ist Arzt, Psychotherapeut und Publizist
sowie Mitglied der Vereinigung Ärzte gegen den Atomkrieg.