DEB by Dagmar Perinelli

Heimattexte

Die Erdbeben in Süditalien, 1981 nach Christus

Sammlung für die Erdbebenopfer in Italien
Ein Bericht von Dagmar Perinelli

Als wir zuhause Kleider für die Erdbebenopfer sammelten, sagte jemand: „Man müßte eigentlich alles selber runterbringen, damit man auch sicher weiss, daß es ankommt.“ In der Zeitung hatten wir von chaotischen Zuständen in Süditalien gelesen, und wie die Bürokratie funktioniert, das weiss man auch als Deutscher. Ein impulsiver Entschluß war notwendig, denn entweder fahren wir gleich oder nie. Wir waren zu dritt, zwei Frauen und ein Mann und hatten einen Ford Transit von einem Freund. Ein kleiner Aufruf in der Zeitung genügte, und die Menschen brachten viele, viele Sachen, im Vertrauen darauf, daß eine private Initiative die Verteilung übernimmt und man mit den Leuten, die selber fahren, auch sprechen kann. Es wurde genügend Geld gespendet. Wir nahmen Kontakt mit den konsularischen Vertretern des Centro Italiano in Grenzach-Wyhlen auf und bekamen eine Bescheinigung, daß wir von der Autobahngebühr befreit würden. Außerdem hatte man im Centro riesige Mengen von Sachen gesammelt und von der Gemeinde einen LKW zur Verfügung, der von zwei Sizilianern gefahren wurde. Als Zielort wurde uns Muro Lucano genannt. Dort sollen die Zerstörungen groß sein, und soviel man weiss, ist noch keine Hilfe dort angekommen.

Auf dem Weg zur Katastrophe

Donnerstagmittag, am 04. Dezember 1981, 12 Tagen nach dem Erdbeben, fuhren wir mit dem voll beladenen Ford Transit und einem 7,5 t Lkw in Richtung Süden. Am frühen Abend erlebten wir die klassische Gotthard-Überquerung: im hohen Schnee rein in den Tunnel – auf der anderen Seite eher herbstlich als winterlich. Wir hatten die Strecke an der Adria gewählt, um von hinten an das Katastrophengebiet zu kommen, da man an Neapel wegen zerstörter und verstopfter Autobahnen und mangelndem Benzin nicht vorbeikommen könne. An den Autobahnkassen wurden wir reibungslos abgefertigt. Es gab vorgedruckte Formulare: Autokennzeichen eintragen und Unterschrift und weiter. Wir hatten es eilig und fuhren die ganze Nacht. In Richtung Rimini erlebten wir am nächsten Morgen einen herrlichen Sonnenaufgang. Den ganzen Tag fuhren wir mit Blick auf das Meer bei strahlender Sonne und frühlingshafter Vegetation die lange Küste hinunter in Richtung italienisches Erdbebengebiet.

Wir kommen mit den Widersprüchen nicht mehr klar – im Katastrophengebiet

120 km vor Bari ging’s dann nach Westen in die Berge. Wilde Landschaft, schroffe Schneeberge, arme Bergbauern – krasser Gegensatz zum freundlichen Küstenstreifen. Wir fuhren den ganzen Tag durch das Gebiet, das noch als vom Erdbeben getroffen erklärt war, und suchten nach beschädigten Häusern und geschädigten Menschen. Armut überall, Bedürftige seit Jahrhunderten an allen Ecken, aber wir wollen zu denen, die auch noch das letzte bisschen Habe durch die Naturkatastrophe verloren haben. Weiter nach Westen müssen wir fahren, sagen die Leute in den Bars, in denen wir einen schnellen Espresso trinken. Unsere Begleiter aus Sizilien sind still, ab und zu ein fragender Blick auf uns, ein bißchen Unverständnis für das, was wir da tun.

Wir hörten Nachrichten: Kommunisten sprechen in Superlativen, Tausende Tote, ein riesiges Gebiet zerstört, unfähige Regierung. Der Sprecher der Sozialisten weist die Vorwürfe zurück, die Christdemokraten sprechen von der guten Organisation, von Übertreibungen und Panikmache der Kommunisten. Von dem, was wir sehen, sind wir geneigt, der DC zu glauben. Wir fahren nun schon stundenlang und außer ein paar schon reparierten Schlaglöchern sehen wir keine Auswirkungen eines Erdbebens. In Venossa, einer Stadt 50 km von Potenza entfernt, gehen die Menschen am Freitagabend auf der Piazza schick angezogen spazieren, wie an jedem anderen Freitag auch. An ein paar alten Gemäuern sind Ecken rausgebrochen, ansonsten scheint alles normal. Unsere Sizilianer fragen einen Carabiniero nach einem Hotel und einem sicheren Abstellplatz für ihren vollen Lkw. „Schlaft doch im Auto, wir haben vor Angst fünf Nächte mit unseren Kindern in Autos verbracht. Hier ist zwar nicht viel zusammengestürzt, aber es bestand Gefahr.“
Wir fragen nach Muro Lucano, unserem Ziel. Von den Carabinieri bekommen wir gesagt, daß die Schäden 20% betrügen, die Leute wären versorgt, alles halb so schlimm. Wir sehen Spott in den Augen unserer Sizilianer. 1.500 Km gefahren – wofür? Sind wir den Übertreibungen der Südländer, den klassischen Dramatikern auf den Leim gegangen? Wir sprechen mit Leuten auf der Strasse. Muro Lucano? Alles kaputt. Es ist gut, daß ihr hinfahren wollt. Wir kommen mit den Widersprüchen nicht klar, haben keine eigene Meinung mehr. Die Sizilianer zucken nur die Schultern, bekommen jetzt Mitleid mit uns.

Andere sind wählerisch – wollen keine alten Sachen. Uns stinkts!

Nach einigen kalten Stunden im Auto werden wir frühmorgens von umstehenden Leuten geweckt. Sie bitten uns um Pullover, zwei Leute von der Müllabfuhr, die blau gefroren sind. Andere kommen hinzu, gucken in den Wagen, sind wählerisch, wollen keine alten Sachen. Uns stinkts. Entweder sie brauchen oder nicht. Was soll das? Wir fahren weiter. Immer höher geht es in die Berge, Schnee liegt auf der Strasse, es pfeift ein eisiger Wind. In S. Fele, das liegt auf der Strecke nach Muo Lucano, müssen wir umkehren. Die Strasse ist total kaputt. Man rät uns, einen Umweg von einer Stunde zu machen. Es gibt zwar noch eine andere kleine Strasse, aber die sei zu gefährlich, teilweise ist die eine Straßenseite abgerutscht. Wir wollen es versuchen, aber die LKW-Fahrer erklären uns für unvernünftig. Wir fahren also den Umweg von angeblich einer Stunde. Wir sind dann vier Stunden unterwegs. Wieder eine Bestätigung dafür, daß die Italiener ja maßlos übertreiben. Vereinzelte Häuser stehen unversehrt da, sind bewohnt. Wo ist die Katastrophe?

Weltuntergangsstimmung

Ortsschilder sind keine mehr vorhanden oder verborgen oder halb abgerissen. An jeder Kreuzung warten wir, bis jemand kommt, der uns sagt, wie es weitergeht. Dabei schüttet es aus vollen Kübeln vom Himmel und stürmt – Weltuntergangsstimmung!

Haufenweise alte Kleider liegen im Regen und vergammeln!

Endlich kommen wir in Muro Lucano an. Ein malerisches Bergdorf. Am Dorfeingang sind Bagger damit beschäftig, einen großen Platz zu planieren, Steine in die Schlucht zu schieben. Die Leute am Straßenrand gucken uns mißtrauisch an. An einer Bushaltestelle liegen haufenweise alte Kleider im Regen und vergammeln. Wir gucken uns total fassungslos an: Das darf doch nicht wahr sein!

Neue Behördenbestimmungen: Keine gebrauchten Kleider mehr an Bewohner – Seuchengefahr!

Rechts auf dem kleinen Hügel Militärzelte. Dahin sollen wir fahren, sagt uns jemand auf der Strasse. Es ist ein umzäuntes Lager. Vor dem Eingang ein riesiger Stapel mit H-Milch in Plastikflaschen. Kinder kommen, holen sich zwei Flaschen, fünf weitere fallen in den vom Regen aufgeweichten Schlamm und werden kaputtgetreten. Die Leute aus dem Lager kommen auf uns zu, freuen sich über die Sachen, über das ausländische Interesse und helfen uns beim Abladen. Da kommt der Arzt des Lagers und liest uns die Bestimmungen der Behörden vor: Gebrauchte Kleidung darf nicht mehr direkt an die Bevölkerung abgegeben werden, wegen der Seuchengefahr. Wir haben aber keine verschmutzen Sachen, sagen wir, alles einwandfrei und zum Teil sogar neu. Vorschrift ist Vorschrift, und so laden wir alles wieder auf. Die Menschen im Lager murren und sind wütend. Sie sind zwar mit dem Notdürftigsten versorgt, aber trockene Schuhe und ein zweiter oder dritter Pullover wären eben auch nicht schlecht. Sich gegen die Autoritäten offen auflehnen tun sie nicht. Sie jammern uns an, wir sollen ihnen versteckt etwas geben, oder sie versuchen zu klauen. Eine der für uns schwierigen Charaktereigenschaften der Italiener. Sie gehorchen nach außen, sie haben nie eine Revolution oder Reformation, nicht mal eine Währungsreform gemacht. Man arrangiert sich hintenrum. Unterstützt von einer seit Cäsars Zeiten diskutierenden, realitätsfernen und auf ihren eigenen Vorteil bedachten Elite in Rom, haben sie gelernt, ohne Regierung zu leben, sich durchzuschlagen, so gut es nur eben geht. Die Kirche hat das übrige dazu beigetragen, daß die Leute sich abfinden mit ihrem Schicksal. Sie wehren sich heimlich, damit es möglichst der liebe Gott und die Autoritäten nicht sehen.

Im Militärcamp: Wir können unser gesammeltes Zeug mit ruhigem Gewissen dort lassen.

Also, wir fahren weiter in das nahegelegene Militärcamp. Dort werden wir freudig empfangen. Die Organisation scheint gut und weitsichtig. Man weiss, daß die betroffene Bevölkerung in 14 Tagen, in ein bis zwei Monaten auch noch Kleidung braucht, denn sie können sich und die Kleidung in den Zelten nicht waschen, müssen alles komplett wechseln. Während wir uns umsehen, kommt ein Mann ins Lager, erzählt von seinem kranken Kind und erbittet Hilfe. Er bekommt sie prompt. Im Lebensmittelzelt Milchpulver, im Kleiderzelt Decken und Mäntel. Das überzeugt uns. Wir können unser gesammeltes Zeug mit ruhigem Gewissen dort lassen. Eigentlich wollten wir genau das nicht, aber inzwischen ist durch die Umwegefahrerei unser Benzin knapp, unser Geld fast alle und wir sind naß bis auf die Knochen. Wir sorgen dafür, daß alles vom Wagen sofort in die Zelte gebracht wird, damit es nicht naß wird und dann vielleicht als unbrauchbar erklärt und weggeworfen wird. Es ist eigentlich unbeschreiblich, wie es regnet. Es schüttet, nur Ölzeug hält dem noch stand, und genau das haben wir nicht dabei.

Dank an die Bevölkerung

Im Moment sind wir erleichtert, aber nur kurz. Was hätten wir anders machen müssen, um direkt an die Bevölkerung verteilen zu können? Eine Sanitäterin erzählt uns, daß in einer nahegelegenen Diskothek immer noch 300 junge Menschen unter den Trümmern liegen, daß man täglich wieder neue Verschüttete findet. Die Soldaten und Aufräumkommandos tragen Gasmasken, Seuchen sind bereits ausgebrochen. Können wir noch helfen, wenn wir näher drangehen? Oder stehen wir nur im Wege? Schwere Maschinen werden benötigt, um die ineinander und aufeinander gefallenen Häuser zu entwirren. Wir stehen wirklich im Wege und entschließen uns zur Abfahrt. Allen Leuten, die unsere Aktion unterstützt haben, möchten wir den Dank der Bevölkerung weitergeben. Wir sind um einige Erfahrungen reicher auf der Rückfahrt. Das nächste Mal noch schneller reagieren, besser ausrüsten, für uns Kleider zum Wechseln, noch unabhängiger und weniger ängstlich und unbedingt direkt an die Leute ran und nicht verunsichern lassen. Auch die Sizilianer sind erleichtert, als das ihnen anvertraute Gut in den Magazinen verstaut ist. Sie fahren weiter nach Sizilien. Wir sind ein bißchen Freunde geworden. Bewunderung für unsere Tüchtigkeit, leichter Spott für unsere Art sich zu wehren lese ich in ihren Blicken. Italien – ein Land – nein, zwei Länder, das Nord-Süd-Gefälle ist riesig – aber der Süden braucht offensichtlich keine Regierung. Man läßt die Politiker reden, Politik – ein Wort ohne Inhalt. Arbeitsplätze, Brot und Häuser sind Worte, die wichtig sind, und das schafft sich jeder für sich, oft auf Kosten seines Nachbarn. Man vertraut nur der eigenen Familie, und das Spektakel der Politiker? Das kennt man, das ändert nichts.

Vorurteile überdenken!

Wenn das eine oder andere Vorurteil einfach noch einmal überdacht wird, hinterfragt wird, dann habe ich mit diesem Artikel erreicht, was ich wollte. Ich kann auch nur versuchen zu verstehen, sonst werden mir diese so plötzlich in unser Scheinwerferlicht gerückte europäische Nachbarn immer fremd bleiben.

Erstveröffentlichung in ZITTIG,6.Jg., Nr. 34,
Januar 1981

„…Es wurde bereits angedeutet (Kap. 10.3) dass mehr als 50 000 Milliarden Lira (nach damaligem Kurs an die 100 Mio. DM) aus den Geldern für den Wiederaufbau zum größten Teil bei der Camorra oder bei den mit ihr verbündeten Politikern gelandet sind. Mann muss diese Zahl in Relation zu den 2000 bis 2500 Milliarden Lire setzen, die die Camorra jährlich mit Heroin- und Kokaingeschäft „erwirtschaftet“. Die Camorra begreift sofort, dass das Erdbeben für sie zum ganz großen Geschäft werden kann. Kaum eine Woche ist vergangen, noch werden die Toten geborgen, da werden bereits Firmen zur Trümmerbeseitigung, zum Abriss einsturzgefährdeter Gebäude und zur Lieferung von Beton und anderen Baumaterialien neu gebildet und gekauft…

Das Erdbeben von 1980 war also für die Camorra der Beginn einer tiefgreifenden und sehr raschen Veränderung. Die Clans, so heißt es in dem Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission zur Mafia vom Dezember 1993, „verwandelten sich zu regelrechten Holdings von produzierenden Betrieben“. Diese „Hinwendung zum Unternehmertum“, merkt der Bericht an, ist „notwendig geworden, um schmutzige Gelder waschen zu können“, die praktische Umsetzung diese Vorhabens wurde „von einer korrupten und selbst mitverstrickten öffentlichen Verwaltung begünstigt…“

Alessandro Silj, Verbrechen, Politik, Demokratie in Italien. Edition Suhrkamp 1911, 1993