ZITTIG-Texte zum deutschen Nationalsozialismus

8. Mai 1945 – Ein Tag wie jeder andere?

Von Gerhard Jung, Lörrach

Erstveröffentlichung in ZITTIG Nr. 73,
Juni 1985

Im Tagebuch meines Vaters (geb. 1889, Tierarzt in Zell im Wiesental) lese ich:

Dienstag, den 8. Mai 45: Schöner Maimorgen. Der Krieg ist zu Ende. Das leidgeprüfte und gequälte Deutschland muß sich auf Gnade und Ungnade den Siegern ausliefern. Dr. Goebbels mit Frau und vier Kindern vergiftet.

Mittwoch, den 9. Mai 45: Sonniger Tag. Gerhard muß nach Schopfheim zur Kontrolle; viele wandern dorthin. Mama geht mit Luise am Nachmittag nach Schopfheim. Gerhard ist im Gefängnis, er wird abtransportiert nach Lörrach. Was dann? Mama kommt spät heim.

Erinnerungen verblassen. Und Gefühle nachzuempfinden ist nicht leicht. Wenn ich heute zurückdenke an jenen „Waffenstillstand“ dann weiss ich nur noch, daß zwei Gefühle mich, den damals 18jährigen bewegten. Auf der einen Seite eine grenzenlose Erleichterung, ja sogar etwas Freude darüber, daß nun endlich der unsinnige Krieg zu Ende war, gemischt mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft und dem festen Vorsatz: Niemals wieder darf Krieg sein! Was ich dagegen tun kann, das werde ich tun! Und wenn ich einmal Söhne haben sollte, die dürfen mir keine Waffen mehr anrühren!

Im April war ich nach Verwundung und schwerem Herzklappenfehler als schwer Kriegsbeschädigter aus der Wehrmacht entlassen worden, hatte mich auf abenteuerliche Weise nach Hause durchgeschlagen und wollte nun ein neues Leben anpacken. Im Vertrauen auf die Gültigkeit eines Waffenstillstandes und im Bewußtsein, nichts Unrechtes getan zu haben, meldete ich mich am 9. Mai nach öffentlicher Aufforderung bei der Besatzungsmacht in Schopfheim. Es war der Anfang einer bitteren Leidenszeit. Mein ärztliches Attest und mein Entlassungsschein wurden zerrissen, ich kam ins Gefängnis. Da ich protestierte, wurde ich geschlagen, danach nach Lörrach abtransportiert. Hunger und schwere Arbeit im Weiler Hafen brachten im September den endgültigen Zusammenbruch; ich kam in das Lörracher Krankenhaus, von dort aber wieder ins Lager nach Offenburg. Erst Ende Januar 1946 kam ich endgültig nach Hause.

Bitterkeit und Zorn auf Alles, was man als Vergewaltigung der Menschenwürde ansehen muß, sind bis heute nicht verklungen. Aber gerade daraus erwuchsen mir auch die Verantwortung für die Zukunft. Nicht der Hass unter den Völkern oder Einzelmenschen kann uns helfen, nur die mutige und ganz persönliche Entscheidung für die Menschlichkeit.

Bi allem,
was an Freud un Leid,
an Sorg un Sege s Lebe trait.
Bi allem,
was mer weiss und wot
un allem,
was mer mache sott
und allem,
was mer mache cha
und, was mer macht,
chunnt s dodruf a:
Aß ein zum andre goht
un sait:
I hilf der!
Des isch Menschlichkeit!

Wie war das bei mir vor vierzig Jahren am 8. Mai 1945

Von Walter Amsel (Jahrgang 1923), Lörrach

Erstveröffentlichung in ZITTIG Nr. 72, Mai 1985

Diese Frage ist für mich schlicht und einfach zu beantworten: Zu Hause in meiner Heimatstadt Lörrach, die zu diesem Zeitpunkt bereits von den französischen Truppen besetzt war.

Aber warum und wieso, hatte ich damals das Glück, schon zu Hause zu sein? Darüber könnte ich einiges berichten (erzählen).

Ich war damals sehr froh über das Ende des Krieges. Warum werden Sie verstehen, nachdem Sie diesen Bericht gelesen haben.

Nach einem 1. ROA-Lehrgang (Reserve Offiziersanwärter) in Bodö (Nordnorwegen), wurde ich von der Luftwaffe zu einer Luftwaffenfeld-Division nach Westpreußen (Gegen um Thorn) versetzt. Daselbst wurden wir zur Ardennenoffensive zusammengestellt. Für mich war es die sog. Frontbewährung vor dem 2. ROA-Lehrgang. Den Ardennenfeldzug habe ich als Fernsprech-Vermittlungs-Truppführer (ROA-Uffz.), beim Abt. Stab mitgemacht. Aber bereits am 24.12.44 in der Nacht, haben wir uns in die Eifel (Prüm Bitburg) abgesetzt. Von hier aus etwa Ende März 1945, wurde ich sodann vom 2. ROA-Lehrgang nach Berlin in Marsch gesetzt. Aber vorher durfte ich noch einige Tage Heimaturlaub "genießen" –

Leider war es zur damaligen Zeit mit dem Reisen sehr schwer und ich war fast zwei Wochen bis Lörrach unterwegs. Ab Freiburg gab es keine Zugverbindung mehr, bis Efringen-Kirchen bin ich zu Fuß gekommen, von da ab hat mich ein Bauer mit einem Pferdewagen nach Lörrach mitgenommen.

Nachdem mein Heimaturlaub abgelaufen war und mir bewußt wurde, daß es keinen Zweck mehr hatte nach Berlin zu fahren, bin ich in Lörrach geblieben und habe mich versteckt gehalten, bis die Franzosen da waren.

Vor der Gefangenschaft hat mich mein französischer Name bewahrt!

"Gott-sei-Dank", darf ich sagen, denn ich habe den Krieg gut überstanden und wir a l l e müssen verhindern, daß es wieder einen gibt!

Wie erlebte ich den 8. Mai 1945?

Von Wolfgang Bechthold, Lörracher Landrat. i.R.

Erstveröffentlichung in ZITTIG, Nr. 72, Mai 1985

Am 8. Mai lebte ich mit meiner Familie in Emmendingen. Etwa vierzehn Tag zuvor war die Stadt von den Franzosen besetzt worden. Es gab am 8. Mai 45 weder eine Zeitung, noch hatten wir ein Rundfunkgerät. Wir wußten daher nicht, was sich an diesen Tagen ereignete, und erfuhren auch viele Wochen hinterher nichts davon.

Wir waren in jener Zeit so sehr mit dem „Überleben“ beschäftigt, daß man für politisches Geschehen außerhalb der vier Wände keine Zeit und auch kein Interesse hatte. Ich kann mich erinnern, daß wir, auch als es wieder Zeitungen und Radio gab, keinerlei Interesse daran hatten, wann und wo der Waffenstillstand abgeschlossen wurde. Das kam alles viel später, als die ersten Bücher über das Kriegs- und Nachkriegsgeschehen erschienen und wir auch Zeitungen mit politischen Kommentaren usw. zur Verfügung hatten.

8. Mai 1945

Von Hilde Neubert, Lörrach

Erstveröffentlichung in ZITTIG, Nr. 72, Mai 1985

Wo ich jenen Tag erlebte, wollen Sie wissen. Dahinter steckt die Frage, was ich damals gefühlt habe und wie ich heute darüber denke. Nun kennen wir uns zwar ein wenig – aber Ehrlichkeit auch in diesem Falle beiderseits vorausgesetzt: Sie wissen nicht, was Sie von mir zu erwarten haben, ob Sie mich in eine heikle Situation bringen, oder ob ich Sie mit meiner Antwort enttäusche.

Ich könnte z.B. tiefe Enttäuschung über den Untergang des Tausendjährigen Reiches empfunden haben, das der Führer uns allen versprochen hatte. Auch mir, die ich wichtige, vielleicht die zehn wichtigsten Jahre des Menschenlebens hinter mich brachte in jenem Zeitabschnitt: Kindheit und Jugend vom zehnten bis zwanzigsten Lebensjahr. Man wird geprägt in diesen Jahren, heißt es – und das wurde damals ganz bewußt von „der Partei“ (man beachte die Einzahl!) betrieben und zwar nicht nur mit Zwang, auch mit Raffinesse.

Halten Sie es für möglich, daß ich mich irgendwohin absetze, untertauchte an einen Ort, wo man mich nicht kannte?

Können Sie sich vorstellen, daß ich freudig auf die Strasse ging – vorsichtshalber ein weißes Handtuch schwenkend, um nicht noch in letzter Minute Opfer eines Mißverständnisses zu werden (um Haus und Hof zu retten), ehe ich meine Befreiung feiern konnte?

Wäre es möglich, daß ich die Gelegenheit nutzte, den Siegern aufklärend weiterzuhelfen bei ihrer Arbeit der Säuberung, um dabei grad noch politische oder private alte Rechnungen zu begleichen? Es gab noch viele Möglichkeiten zwischen den angeführten Extremen – und nicht immer hatte der Mensch im Laufe der Geschichte die Freiheit – schon gar nicht in einem totalitären Staat – nach eigenem Gutdünken zu leben und zu handeln. Das ist heute schwer vorstellbar. Halten Sie einen Moment ein, ehe Sie weiterlesen. Wo würden Sie mich einordnen?

Ich muß Sie enttäuschen, glaube ich. An jenem achten Mai 1945 war ich im Stall und auf dem Kartoffelacker. Was in Deutschland und der Welt passierte, das erreichte mich kaum.

Das kam so: Ich war seit dem 2. Januar 1945 im kleinen Wiesental als Lehrerin eingesetzt worden. Der bisherige Lehrer war aus dem Elsaß hierher abgeordnet worden. Jetzt hatte er sich „abgesetzt“ und die Schule war verwaist. Zum Glück hatte ich schon das erste Staatsexamen, sonst hätte ich einem Stellungsbefehl nach Nürnberg-Zirndorf zu einer Scheinwerferersatzbatterie folgen müssen. (Sagen Sie mir nicht, daß Sie an meiner Stelle daheim geblieben wären!) Wahrscheinlich wäre ich dort samt Scheinwerfer – wie vielen anderen geschehen – bei einem Luftangriff „ausgefallen“, vielleicht auch als nazistisches Flintenweib in Gefangenschaft gekommen. Damals gab es Frauen in der russischen Armee. Inzwischen haben auch die westlichen Armeen nachgezogen! Man sieht das heute nicht mehr so eng!

So hatte ich glücklicherweise n u r 76 Schulkinder in zwei Schichten zu betreuen, 1. bis 4. Schuljahr und 5. bis 8. beisammen. Ich hauste in einer kleinen Kammer neben dem Schulraum, ebenerdig zur Strasse gelegen. Die Lehrerwohnung stand mir nicht zu, sie war von Flüchtlingen belegt. Ich hatte Mitbenutzung des Schülerklos und eines Wasserhahns und Feuerholz für meinen NSV-Ofen frei von der Gemeinde. Es gab weder Laden noch Bäcker und außer Niefentalers Milchtransport (bis Maulburg) keine Fahrgelegenheit, doch das Fahrrad tat’s auch.

Jeder vernünftige Mensch wußte damals schon längst, daß der Zeitpunkt der totalen Niederlage da war. Nur ganz vernagelte Zweckoptimisten faselten noch von Wundern. Der Zeitpunkt für die einzelnen Gebiete war eine frage der Strategie der Alliierten.

Nach einigen Tagen am neuen Ort beschloß ich als erstes, das Melken zu lernen. Die Höfe wurden von alten Leuten, Frauen und Kindern betrieben. Auf manchen Höfen arbeiteten auch Polen. Gesunde junge Männer waren spätestens ab 17 Soldat, sogar ältere Jahrgänge, die schon anno 18 im Krieg waren, wurden zum Volkssturm geholt. Es würde hier einen Haufen Arbeit geben, wenn’s in einigen Wochen mit der Feldarbeit losginge. Und die würde getan werden, so gut es ginge, ganz egal, wer dann im Land das Sagen hätte. Ich hatte deshalb im Sinn, nicht heimzugehen, wenn die Schulen geschlossen würden, ich wollte an meinem Dienstort bleiben.

Deswegen also war ich an jenem 8. Mai 45 dort, wo Kartoffeln zur Zeit in den Boden müssen, Vieh gefüttert wird, Gülle und Mist hinaus muß, egal unter welcher Flagge. Vom Heil schreien oder vom Werweißen ist noch keiner satt geworden.

Wenn ich von nun an „wir“ schreibe, dann meine ich damit das Dorf oder die Leute, die auf dem Hof lebten, zu denen ich zunächst nach der Schule ging, um zu helfen und zu lernen.

Der Kanonendonner war auch im Tal hinten immer häufiger zu hören. Manchmal stieg ich auf den Berg, um besser orten zu können, ob es auf Lörrach ginge. Bei Sonntagsbesuchen daheim sah man vom Schlafzimmerfenster aus das Mündungsfeuer der französischen Kanonen, die hinter der Landskron im Jura standen und (vermutlich über Schweizer Territorium hinweg) Richtung Tüllingen-Lucke schossen, wo man die Einschläge sah. Es war daher ratsam, schon um 15 Uhr aufs Rad zu steigen, um so schnell wie möglich bei Steinen oder Gündenhausen die Wiesentalstraße und die Nähe der Bahnlinie hinter sich zu bringen, denn sie begannen gewöhnlich um 16 Uhr zu schießen.

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