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DEB by Dagmar Perinelli

Der liberale Politiker Peter Jensch aus Lörrach hat mit diesem Text 1982 ein brillantes Beispiel politischer Meinungsäußerung geschrieben. Es ist in der regionalen Publizistik des Dreyeccklands auch ein viertel Jahrhundert später mit Freude zu lesen. Grazie mille diesem
herausragenden liberalen Politiker.

Heimattexte

Schwere Zeiten für die FDP

Ein Beitrag von Peter Jensch
Kreisvorsitzender der FDP Lörrach

Erschienen in:
ZITTIG Nr. 51, November
1982

In der Zeit des Koalitionswechsels vom 17. September bis 17. Oktober 1982 sind im Kreis Lörrach 17 Mitglieder aus der FDP ausgetreten. Fünf neue Mitglieder sind in die Partei eingetreten. In einer Austrittserklärung wurde geschrieben: „Wenn in der Politik die Glaubwürdigkeit keinen Platz mehr hat, möchte ich mich aus ihr zurückziehen.“

Der Vorstand des FDP-Ortsverbands Schopfheim hat geschlossen seinen Rücktritt erklärt. In der Rücktrittserklärung heißt es: „Selbst bei unausweichlichem Scheitern der Regierungskoalition wäre der einzige folgerichtige Weg gewesen, aus der Regierung auszuscheiden und in die Opposition zu gehen mit dem Ziel, Neuwahlen herbeizuführen. Nur dieser Schritt wäre eine saubere demokratische
Möglichkeit und die einzige vor dem Wähler vertretbare Lösung gewesen. Für den fliegenden Koalitionswechsel ohne Neuwahlen und ohne vorherige Einigung auf ein gemeinsames Regierungsprogramm gab es weder eine Notwendigkeit noch einen für uns einsichtigen Grund: Machterhaltung um jeden Preis unter Verzicht auf demokratische Glaubwürdigkeit kann kein liberales Argument sein.“

Schwere Zeiten für die Freie Demokratische Partei

Man sieht nicht gut aus. Die anderen sehen scheinbar viel besser aus. Natürlich CDU und CSU: Sie sind in Bonn an die Macht gekommen. Aber auch die SPD: Sie hat einen starken Abgang, ihr populärer Bundeskanzler Schmidt wurde gestürzt, das weckt Mitleidsgefühle und moralische Entrüstungen. Die Union kam an die Macht, die SPD trat ab. Keiner wechselte den Partner. Nur die FDP.

War der Wechsel notwendig?
War der Wechsel verwerflich?

Die erste Frage zielt auf die Gemeinsamkeiten der Politik. SPD und FDP haben 13 Jahre lang die sozialliberale Koalition geführt und gemeinsam regiert.

Die zweite Frage zielt mehr auf das Verfahren, die Art und Weise des Wechsels. In ihr steckt all das drin, was der FDP und besonders ihrer Führungsspitze (Genscher) mit viel Emotion vorgeworfen wird, – die „Dolchstoss“- und „Verrats“-Legenden a la Bölling, die Schlammschlacht gegen Hans-Dietrich Genscher. In dieser Frage steckt aber noch mehr: Die Frage nach der Legitimität eines Koalitionswechsel der FDP an sich – und die Frage, ob eine relativ kleine Partei wie die FDP die Legitimation hat, die Macht neu zu verteilen und dabei zugleich selber dranzubleiben.

War der Wechsel notwendig?

Über die Notwendigkeit des Wechsels wird innerhalb der FDP gestritten. Für dien einen – und wohl die Mehrheit – waren die Gemeinsamkeiten mit den Sozialdemokraten aufgebraucht (Genscher, Lambsdorff). Für andere waren selbst am Ende der Koalition die Gemeinsamkeiten mit der SPD in der Summe immer noch größer als Gemeinsamkeiten mit der CDU/CSU (Matthäus-Maier).

Dieser Meinungsstreit ist zwar nur noch für die innerparteiliche Auseinandersetzung von aktueller Bedeutung; denn es sind vollendete Tatsachen geschaffen: Die neue Koalition mit den Unionsparteien ist gebildet. Davon rührt jetzt kein Weg zurück.

Aber für viele Wähler und Mitglieder war die sozialliberale Koalition, besonders seit den „Freiburger Thesen“ der FDP von 1971, selbst ein Stück der politischen Identität. Deshalb leidet die Partei am Ende dieser Koalition.

Andererseits sei aber auch an die ersten öffentlichen Reaktionen von Sozialdemokraten auf die Beendigung der Koalition nach dem 17. September erinnert: Bis in die Kreis- und Ortsvereine der SPD waren es zur Überraschung Vieler Gefühle der „Erleichterung“, die
geäußert wurden, und Gefühle der „Dankbarkeit“ an Helmut Schmidt, dafür, dass er die Koalition beendete hatte. Solche Reaktionen haben die These Genschers vom Ende der Gemeinsamkeiten natürlich bestätigt. Wollte die SPD denn überhaupt noch regieren?

Zum Ende einer Beziehung – wie einer Koalition – gehören wohl immer zwei. Deshalb ist es unredlich, der FDP die Schuld, die Haupt- oder Alleinschuld zuzuweisen. Gerade Genscher war und galt in den letzten zehn Jahren als besonders standfester, zuverlässiger, auch als besonders fairer Politiker und Parteiführer auf der Bundesszene.

“Und jetzt soll er ein Schurke sein?“ – fragte Martin Grüner nicht zu Unrecht.

War der Wechsel verwerflich?

Damit stehen wir schon mitten in der Erörterung der zweiten Frage: ob der Koalitionswechsel der FDP verwerflich war.

Sicher sind die Abgeordneten als vom Volk Gewählte unabhängig und frei von Weisungen. Sie haben die Legitimität der Verfassung (Grundgesetz) auch dann auf ihrer Seite, wenn sie eine Koalition wechseln, einen Kanzler stürzen und einen neuen Kanzler wählen.

Aber Koalitionsfragen sind bei der FDP zur Sache der Partei gemacht worden. Wenigstens in den letzten zehn Jahren haben die
Bundesparteitage – und nicht zuerst die Abgeordneten der Bundestagsfraktion – die Koalitionsentscheidungen der FDP beschlossen.

Beendet wurde die sozialliberale Koalition ohne Parteitagsbeschlüsse, ohne die Partei zuvor zu befragen. Dass der Bundesvorstand der FDP mit knappen Mehrheiten den Wechsel absegnete, ersetzt diesen Mangel schwerlich.

Man darf freilich auch nicht blauäugig sein: Die Dramaturgie eines Koalitions- und Regierungswechsels kann wohl von der Natur der Sache her nicht auf einem Parteitag laufen. Diese Dramaturgie kann nur in Bonn laufen.

Trotzdem muss die Absicherung durch die Partei gegeben sein. Die Partei muss vorbereitet und befragt sein, sie muss die Handlungen der Führungen tragen können. Vielleicht hätte es schon genügt, dass die FDP mit einem eigenen Parteitag auf den „Münchner Parteitag“ der SPD reagiert hätte: Um dort die eigenen Positionen zu verdeutlichen und sie – bis auf den Punkt der Koalitionsfrage – der SPD
gegenüberzustellen.

Diese Unterlassung der Befragung der Partei wird Genscher als Parteivorsitzenden vor allem vorgehalten. Aber auch die Kritiker im Bundesvorstand – von Baum bis Born – haben einen Parteitag nicht erzwungen; vielleicht – ja wahrscheinlich – wurden auch sie überrascht und „überfahren“, – das heißt: Haben nicht mit der Aktualität der Endphase gerechnet.

Wahlen, Parteisystem und Machtanspruch.

Bei den Neuwahlen des Deutschen Bundestages im Frühjahr 1983 wird es die FDP wieder einmal mehr am Schwersten haben.

Und doch ist diese Partei unentbehrlich, – will man kein Zwei-Parteien-System. Unentbehrlich für die Handlungs- und die
notwendige Kompromissfähigkeit des Parlaments und der Politik.

Ob genügend Wahlberechtigte dies begreifen, wird die große Frage sein. Ob sie begreifen, dass es relativ besser ist: Die FDP regiert mit – als die Union oder die Sozialdemokraten regieren allein. Die FDP als Koalitionspartner wird wie in der Vergangenheit auch in Zukunft für Kontinuität und Liberalität stehen und zu sorgen haben – bei allen Akzentverschiebungen die der Wechsel der Regierungspartei: SPD zu CDU/CSU – auch bringen wird.

Dass etwa die „Grünen“ und Alternativen die Rolle der FDP ersetzen oder übernehmen könnten, ist nicht zu sehen.

Die grünen und Alternativen verstehen sich grundsätzlich anders
als die anderen Parteien zusammen. Sie wollen andere Strukturen unserer Demokratie. Aber sie können die Wählerpsychologie in der
Bundesrepublik Deutschland auch nicht verändern. Niemand kann das ändern: dass 80% der Bürger eine von zwei großen Parteien wählen. Wer da in der Bundesrepublik Deutschland „dritte Kraft“ sein will, muss kompromiss- und koalitionsfähig sein, muss fähig und willens sein, wenn er gewählt ist, auch für ein handlungsfähiges Parlament mit einer handlungsfähigen Regierung und Opposition zu sorgen. Opposition ohne Regierung ist genauso schlecht wie Regierung ohne Opposition. Dies scheint ein Hauptproblem bei den Grünen und Alternativen zu sein.

Letzte Überlegung zur Machtfrage.

Man macht der FDP ihr Streben nach Machterhaltung zum Vorwurf, weil die SPD die Macht abgeben musste, – die FDP aber in neuer Koalition unter Bundeskanzler Kohl gleich wieder an der Macht beteiligt wurde.

Der große Zorn ist nur aus dem Verlust der Macht heraus verständlich. Dieser Zorn der SPD zeigt: wie natürlich das Machtstreben für jede seriöse politische Partei ist. Eine Partei, die auf den Machtanspruch verzichtet, ist ein Selbstwiderspruch.

Bei der Wahl des Parlaments wird die Macht vom Wähler
verteilt. Der Wähler teilt auf Zeit Macht zu. Darin liegt auch die ganze Verantwortung, die jeder Wahlberechtigte hat. Sie erfordert: Emotion und Vernunft in einem Gleichgewicht zu halten. Wer nur aus Hass und Liebe wählt, riskiert für das Land die schlechteren Zufälle.