Tramperfahrung in Italien

in meinem tramperleben verlief bisher – so dachte ich – „alles normal“. als junger typ hatte ich eingendlich nie schwierigkeiten. klar, ich stand immer länger da, als irgendwelche frauen. und das ist ja auch ein beschissenes gefühl, wenn du da stundenlang stehts und keiner aber auch kein einziger (keine einzige) nimmt dich mit und dann kommt da so `ne frau, oder zwei, und „schwupp“ hält ein auto und „wumm“ – weg sind sie. aber das war doch eigendlich doch nie so recht schlimm. aber dann hat doch letztenendes doch immer jemand angehalten und ich bin weitergekommen.

geklaut habe ich noch niemandem etwas, obwohl es dem einen oder anderen garnichts ausgemacht hätte und obwohl viele eine fast teuflische angst davor entwickelten und sich neuerotisch umschauten, da zeug wegrafften, einschlossen, beargwöhnten. Na und mir ist auch noch nie etwas geklaut worden – hatte aber auch meistens nie viel dabei, was sich gelohnt hätte zu klauen. mir wollte nie jemand was zuleid tun, bin an kein kinderschänder und kein sexualmörder geraten. gut, da war das ein oder andere angebot von so manchem homosexuellen an mich – doch wenn ich nicht wollte, wollte ich nicht und die sache war klar. keine aufdringlichkeit, erst recht keine gewalt. keine bedrohung.

soweit, soright. da war also meine kleine tramperwelt doch grösstenteils noch in ordnung. es schmerzte zwar, wenn in einem von mir als fortschrittlich angesehenen land die leute kaum tramper mitnamen, oder wenn alte bekannte, oder vor kurzem noch selber-tramper hochnässsig an mir vorbeifuhren, aber das warn nur kleine schatten in meiner tramperwelt. da schien gleich wieder die sonne –und spätestens nach dem nächsten auto was mich 200 km weiter mit/weg-nahm wars vergessen und verdrängt.

bis ich jetzt zu pfingsten mit daggi durch italien trampte.

da stehn wir stundenlang in grosser hitze an der strasse und keine auto, aber auch kein auto hält an. aber sie – und das sind in dem fall hauptsächlich oder nur männer – fahrn nicht nur an uns vorbei. ihre hässlichen, geilen blicke zeigen nur zu deutlich, an was sie denken, wenn sie an der frau am strassenrand vorbeifahren. sie, die zu hause die eigene frau klein halten, an herd, kinder und kirche binden, jeden eigenen gehversuch der frau unterbinden, die keuschheit und moralität hochhalten – sie sehen in jeder frau am strassenrand das sexualobjekt, die hure, die sie nehmen möchten. oft drücken sie das in ihren gebärden aus oder schreins dir zu. ja, wen der typ neben dir nicht da wär, würden wir dich sofort…. und wir stehn und stehn und kommn nicht weg.

dann muß ich mal kurz auf die toilette, zwei drei minuten. da halten schon etliche autos an, obwohl daggi gar nicht trampt, nur da steht. sie jagd sie davon, ein alter typ hält. sie fragt, ob er sie und ihren freund mitnimmt. er lehnt ab. mit einer schimpfkanonade auf ihn und seine „moralität“ kann sie ihn doch dazu überreden, auch mich mitzunehmen. mir wird kotzübel, ich entwickle gegen diesen ach-so-biederen familienvater einen riesenhaß, könnte ihm links und rechts eine ins gesicht haun. während der fahrt auch immer wieder blicke zu ihr – vielleicht will sie doch. ich empfinde abscheu und bin froh als wir aus dem auto draußen sind. doch damit nicht genug. wir sind auf der autobahn. an einer dieser kassen und die polizei wird gleich wiederkommen und uns davonjagen. daggi spricht zwei männer an. ob sie uns nicht mitnehmen könnten, wir müssen hier von der autobahn weg. doch, gleich kämen freunde von ihnen, mit denen könnten wir mitfahren. und mit denen fahren wir dann auch mit. drei panzerknacker – so nennen wir sie im spass, kleine gangster, die gerade ein ding gedreht haben und sich ein wenig darüber unterhalten, in der annahme, daß wir fast kein italienisch können. dann biegen sie von der autobahn ab, fahrn in andere richtungen, in die düsteren vorstädte von mailand. ich bekomme angst. grad noch haben wir uns im spaß unterhalten, wer von denen wohl mich nimmt und welcher sie. jetzt ist mir aber der spaß vergangen. ich habe nur noch angst. ich behalte sie für mich, will nicht noch mehr angst erzeugen. aber ich spür genau, dass wir den dreien da völlig ausgeliefert sind. ich schmächtiger typ kann da wenig machen. und wenn die daggi vergewaltigen wollen, könnten sie das, wehrlos wie wir beide sind. in diesen minuten im auto habe ich etwas gefühlt, was ich bis dahin noch nie gefühlt hatte: noch nie hatte ich um eine frau so viel angst und noch nie hatte ich vor männern so viel angst, wie in diesen augenblicken. sie haben nichts gemacht, nur sich ein paar mal verfahren, den dicksten in einem hinterhof (mein herz krallt sich zusammen: da hätte es stattfinden können!) abgeladen, uns irgendwann abgesetzt. Ich konnte danach nicht mehr trampen. wir sind dann strassenbahn und später zug gefahren, ich bekam noch meinen weinkrampf. mit viel liebe wars dann vorbei.

ich werde bei ähnlichen reisen eine sprühdose mitnehmen, in solche autos wohl nie mehr einsteigen, italien als tramper vielleicht gar meiden. daß mir bzw. uns das in jedem anderen land auch passieren könnt ist mir klar. wir werden vorsichtiger sein. und kämpfen für eine zweit ohne
sexismus.

dieter baumert

erschienen in: Lörracher Stadtzittig, Ausgabe Nr. 12/13, Juni/Juli 1979