DEB by Dagmar Perinelli

Tod und Sterben des R.E.

4. PEN-Autoren antworten (Fortsetzung):

Dr. jur. Frank Benseler, o. Prof. für Soziologie, Paderborn

Ich kenne Herrn Eberle nicht, wusste nur von einem gleichnamigen, „hohen“ funktionär in politik und wirtschaft: die verquickung von ministeramt und aufsichtsratsposten stellt ja in unserer republik den normalfall jener krankheit dar, die den gewaltenteilung obsolet
und die demokratie so schwierig für den macht, den sie eigentlich angeht: für uns.

durch Ihren beitrag habe ich gemerkt, dass dieses monstrum „funktionär“ ein mensch war, mit widersprüchen, erinnerungen, erkenntnissen, möglichkeiten sich zu ändern, mit dem schlechten gewissen und den aggressionen, die uns alle auszeichnen, die wir eigentlich was anderes wollten, als wir tun, das „gute“ (ideel) suchen und das „böse“ (praktisch) schaffen.

Ihr beitrag in „zittig“ vom dez. 84 auf s.22 und 24, hat nicht das allergeringst mit dem strafrecht zu tun, ist „mit an sicherheit grenzender wahrscheinlichkeit“ nicht nur sondern bestimmt keine „verunglimpfung“ von herrn Eberle, sondern eine menschlich-künstlerische würdigung. ich habe zwar schon bessere literatur, auch zeitgeschichtliche gelesen, damit wir uns nicht mißverstehen: aber das hat nichts mit dem fall zu tun. dem leserkreis der zittig wird ein mensch präsentiert und verständlich gemacht, und zwar auf einer anderen, tieferen, wichtigeren formalen ebene, den er sonst nicht anders als von außen, als feind hätte wahrnehmen können. gerade die beiden von der staatsawaltschaft inkriminierten stellen im pissoir undim abteil sind dem verständnis dieser loserschicht und einer normalen überwiegenden leserschaft in deutschland deutlich, aufklärend und sinnfällig: nicht nur, daß die szenen realistische sind, auf eigene ähnliche erinnerungen verweisen; machen sie doch auch gerade die wandlungsmöglichkeiten des Menschen Eberle einsichtig: unterdrückte angst vor der mutter, scham über die behandlung seiner töchter. also keine verunglimpfung des andenkens verstorbener, auch keine beleidigende absicht; vielmehr eine literarische verewigung: wenn keiner die lob- und weihreden, die ja vorgestanztes, bürokratisch-funktionales formelhaftes, dem funktionärsdasein adäquates totes material benutzen, mehr erinnert wird, wenn in politik und staat niemand mehr sich an einen wirtschaftsminister RE erinnert, dann kann diese geschichte im lesebuch leid und ende eines politikers, die diskrepanz zwischen ausbruchswünschen (Marga, wie menschlich), distanzierungswut (nicht wie vater sein), anpassungszwang (nach oben zur wirtschaft und ihren interessen), jenseitserwartungen (gebet der alten frau), triebunterdrückung (mutter entdeckt kindlich normale spiele) und dem funktionierenden bürokraten vermitteln, einsicht und mitleid auslösen.

ich gratuliere Ihnen, daß sie mit hilfe von staatsanwaltschaft, amtsrichter und polizei es geschafft haben, Ihren beitrag in zweifel zu bringen, jedenfalls – wie mein brief zeigt – mehr zu verbreiten, als sonst üblich gewesen wäre. offenbar sind in Lörrach die andernorts längst angewandten subtileren methoden, literatur zu behindern, noch nicht bekannt, obwohl die zunft der schreiber seit Heine und Tucholsky, häufig selber strafrechtlichen konflikten ausgesetzt, unausgesetzt darauf hingewiesen haben.

meine empfehlung: den instanzen,dem kollegen vom oberbadischen volksblatt, der von „fäkaliensprache“ schreibt, ohne offenbar zu wissen, wie literatur sich heute realistische ausdrückt, auch was von Bukowski oder Brinkmann beizuliegen.

im übrigen wissen Sie vielleicht, daß ich "literatursoziologie" betreibe.

Hans Bemmann, Bonn

Sie stellen eine Menge Fragen zu dem Text von dieter baumert „tod und sterben des rudolf eberle“, der zur Beschlagnahmung der ZITTIG geführt hat, und diese Fragen laufen allesamt mehr oder minder darauf hinaus, ob es sich hier um einen literarischen Text handelt. Wenn ich darauf – zumindest wie ich es verstehe – eine Antwort geben soll, so ist gleich zu Anfang einiges festzustellen:

– Die Qualität eines literarischen Textes ist nicht unmittelbar abhängig von den verwendeten Wortfeldern; es gibt allgemein anerkannte Literatur, gegen deren Wortgebrauch der zu Debatte stehende Text sich vergleichsweise harmlos ausnimmt.

– Ob der Schreiber ein Psychopath ist, entzieht sich meiner Kenntnis und interessiert mich auch nicht weiter; es gibt genug Beispiele bedeutender Dichter mit psychopatischer Veranlagung.

– Literatur kann alles zum Thema haben, auch das Leben der „hohen herrn“, wie Sie das nennen. Da kommt es darauf an, was Sie unter „art“ verstehen. Ich kann mich – entsprechend Ihrer Fragestellung – nur auf die Art zu Schreiben beziehen.

Ich muss dies allein schon deshalb tun, weil meine Kenntnis über den tatsächlichen Lebensgang der Erzählfigur – nur entsprechend der räumlichen Entfernung zwischen Bonn und Südbaden – überaus gering sind, und ich sehe mich außerstande, mich in den im Text immer wieder berührten, von politischen, ökonomischen und persönlich-psychologischen Aspekten mitbestimmten, äußerst komplexen Problemknäuel hinreichend einzuarbeiten. Also kann ich nur den Text für sich selber sprechen lassen, als handle es sich bei der zentralen Gestalt um eine – zunächst wenigstens für mich – weitgehend fiktionale Erzählfigur.

Der Autor verfolgt den offenbar ziemlich hektischen Ablauf des letzten Lebenstages von Eberle. Die Erzählperspektive ist an diese Figur gebunden: Die berichteten Vorgänge erscheinen durchweg aus seinem Blickwinkel gesehen, auch werden dem Leser gelegentlich Eberles Reflexionen einschließlich einiger Erinnerungsfetzen mitgeteilt. Der Text bewegt sich in der Hauptsache im Rahmen des heutzutage üblichen Polit-Jargons, der dem Thema durchaus angemessen ist, wenn auch einige Verfremdungen hier wohltuend gewirkt hätten.

Es gibt jedoch auch einige Passagen, in denen der Autor diesen Wortbereich verlässt und sich zeitweise in die eher intime Sphäre seiner Figur begibt, offensichtlich in dem Bestreben, die Persönlichkeitsstruktur Eberles in Form von erinnerten Rückblenden für den Leser durchschaubar zu machen, wie man das allzu oft in amerikanischen Filmen vorgesetzt bekommt. Und hier wird’s dann interessant.

Schlüsselszene ist dabei ohne Zweifel jener dritte Abschnitt, der mit den Worten „Als er am pissior…“ beginnt. Das hier reflektierte kindliche Erlebnis des Lustverbotes durch die Mutter und die in diesem Zusammenhang verhängten Sanktionen („er war öfter geschlagen worden“) haben diesen Mann offenbar zu dem gemacht, was er ist. Es gelingt dem Autor, durch diesen Kunstgriff das Mitleid des Lesers zu erregen, soweit er sich noch einen Rest von Menschlichkeit bewahrt hat.

Aufschlussreich ist der Wortgebrauch in diesem Abschnitt. Die Rede ist hier geradezu leitmotivisch vom männlichen Genitale, für das es im Deutschen kein eigentlich genuines Wort gibt. Offenbar war die Tabuisierung in dieser Hinsicht dermaßen scharf, dass ein ursprünglich anzunehmender Begriff aus der Sprache gänzlich eliminiert worden ist und man sich seither mit Ersatzwörtern z. T. metaphorischen Charakters behelfen muss (beim weiblichen Genitale ist diese bezeichnenderweise nicht mit solcher Ausschließlichkeit festzustellen: für den Mann scheint dieser Bereich seines Körpers wesentlich beängstigender zu sein, etwa im Sinne von Kastrationsangst, Potenzangst u.a.).

Solche beliebig zu füllenden Leerstellen unserer Sprache haben wir nun die Eigenschaft, dass ihre jeweilige Füllung nicht nur das Gemeinte bezeichnet, sondern zugleich auch den Sprecher selbst (der ja relativ frei wählen kann) in seinen Einstellungen charakterisiert, je nachdem, ob er im vorliegenden Falle in diesem Körperteil ein mythisches Symbol (phallos), ein medizinisch relevantes Organ (penis), einen für ihn aus unterschwelligen Gründen nur schwer zu benennenden Bereich seines Körpers (glied) oder was auch immer sieht. Die hier verwendete Bezeichnung „schwanz“ nimmt ihre Metapher aus dem tierischen Körperanhängsel, und es ist zu vermuten, dass von dem Schreiber des Textes diese Körpersphäre bewusst oder unbewusst als tierisches Relikt des Menschen empfunden wird, ein Relikt, das ihn daran hindert, ganz und eigentlich Mensch zu werden. Die Hartnäckigkeit, mit der er auf dieser Formel beharrt – ohne die geringst literarische Variationen -, lässt schon fast an eine Art Fixierung denken.

Wenn eine solche, zunächst als Fremdkörper im Kontext wirkende Fassung überhaupt einen Sinn haben kann, dann jenen der Deutung anderer Textstellen. Doch wo sind diese zu suchen? Geradezu als Parallele bietet sich da die im fünften Abschnitt eher angedeutete Liebesaffäre der Erzählfigur an. Hier wiederholt sich die gleiche Struktur wie in Abschnitt drei: Die Regenbogenpresse als quasi „mütterliche“ Instanz, die Eberle zum Lustentzug zwingt. An dieser Stelle wird das Mitleid des Lesers eine weitere Steigerung erfahren. Diese doppelt gesteigerte Frustration der Erzählfigur führt dann geradewegs zu jenem im achten Abschnitt geschilderten Aggressionsausbruch angesichts der zwei Mädchen im Eisenbahnabteil, und das auch noch als mühsam zurückgedrängte, zwanghafte Wiederholungshandlung der rückerinnernd wiederbelebten Züchtigung der eigenen Tochter.

All dies zusammen ergibt eine Vorstellung vom Menschenbild des Autors: der Mensch als ein von seiner nicht ausgelebten Sexualität her determiniertes Wesen, im dem das „Tier“ immer wieder Oberhand gewinnt. Da er in Eberle offenbar eine exemplarische Gestalt sieht (warum in aller Welt erzählt er sonst von Ihm?) muss diese Erkenntnis als die zentrale Aussage des Textes angesehen werden. Eberle wird dadurch vollkommen von seiner Schuld (wo auch immer diese liegen man) entlastet. Der Mensch ist nicht frei, sondern wird von seinem Triebleben zwangsläufig zu einem tierhaft reagierenden Wesen gemacht. Es mag dem Autor unbenommen sein, diese Ansicht zu vertreten; ich muss jedoch an dieser Stelle anmerken, dass ich diese Meinung keineswegs teile.

Wozu nun das Ganze? Offenbar soll hier jemandem etwas bewusst gemacht werden. Aber wem? In diesem Stadium der Überlegung muss ich nun doch auf den Zusammenhang zwischen der fiktiven Erzählfigur „Eberle“ und jenem kürzlich verstorbenen Menschen gleichen Namens eingehen. Er wird hier ja als der eigentlich Leidende geschildert, dem hätte geholfen werden müssen. Dieser Gedanke führt mich zu der Frage: Warum hat sich der Autor nicht zu Lebzeiten dieses Menschen zu dessen Problemen geäußert? Ein solcher Text, hätte man ihn publiziert, wäre Eberle mit Sicherheit von seinem Pressereferenten auf den Schreibtisch gelegt worden, hätte seinen Adressaten also erreicht. Wozu aber soll er heute noch dienlich sein?

De Mortuis nil nisi bene, zu deutsch: Über Tote (soll man) nichts sagen, wenn nicht auf gute Weise. Dieses bekannte Sprichwort wird leider in dem Masse, in dem die Lateinkenntnisse unter der Bevölkerung abnehmen, zunehmend missverstanden, etwa in dem Sinne, es sei erlaubt, sich über Verstorbene in unbegründeten Lobhudeleien zu ergehen. Das wird jedoch in diesem Satz überhaupt nicht gesagt. Genau besehen bedeutet er nämlich: Über Tote soll man schweigen, wenn man nicht Gutes über sie zu sagen weiß, weil man das Schlechte in ihnen zu Lebzeiten ins Gesicht hätte sagen sollen. Anders wäre die Intention, zu einer Veränderung der Zustände in dieser Welt beizutragen, gar nicht zu verwirklichen. Wer dies versäumt hat, beschämt nur sich selbst, wenn er seine Meinung erst über dem Grab des Beschuldigten zu äußern wagt. Wozu als soll er dienen, dieser Text? L ‚art pur l’art? Auch das wäre nicht meine Sache.

Der Spiegel
Redaktionsvertretung Stuttgart
Peter Stähle

Von unserer Hamburger Redaktion habe ich Ihr Schreiben vom 15.12 sowie den inkriminierten Artikel über den verstorbenen Minister Rudolf Eberle erhalten. Es lohnt sich ganz gewiss nicht, über eine solch erstaunliche Geschmacklosigkeit zu urteilen und sie mit journalistischen oder gar literarischen Maßstäben zu messen. Sicher dürfte sein, dass derartige Entgleisungen unserem Berufstand nur abträglich sein können. Und die Angehörigen tun mir leid. Wer so etwas schreibt, muss kein Psychopath sein, er sich aber auch kein guter Journalist.

DIE ZEIT
Dr. Marion Gräfin Dönhoff
– Sekretariat – Hamburg

Ihr Brief vom 15.12., mit dem Sie Gräfin Dönhof „tod und sterben des rudolf eberle“ baten, hat unsere Herausgeberin nicht mehr erreicht. Sie war gerade nach Südafrika abgereist. Da wir sie von dort erst Ende Januar zurückerwarten, wird es für Ihre Umfrage leider zu spät sein – zumal Gräfin Dönhoffs Schreibtisch schon jetzt von ca. 2 Kubikmetern unerledigter Post bedeckt ist, sie erfahrungsgemäss also in absehbarer Zeit gar nicht dazu käme, sich mit Ihrem Pamphlet eingehender zu befassen.

Ich bitte um Verständnis
Adelheid Meyerholz

Werner Holzer
Frankfurter Rundschau – Chefredaktion
Frankfurt

Ihren Brief vom 15. Dezember hat mich heute erreicht. Bitte erwarten Sie von mir weder einen Leserbrief noch eine ausführliche "Erklärung“ zu Ihrem Artikel über Rudolf Eberle. Meine Meinung will ich Ihnen gerne sagen: Ich weiß nicht, was es für einen Sinn haben soll, einen solchen Text zu schreiben. Wen wollen Sie damit von was überzeugen? Und: Woher wissen Sie, wie Rudolf Eberle mit seinen Töchtern umgegangen ist?

Wenn ich solche Texte lese, dann stelle ich mir immer vor, wie der Autor reagieren würde, falls ihn andere auf solche Weise ins Visier nähmen.

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