ZITTIG-Texte zum deutschen Nationalsozialismus
Zurück ins Wiesental: Eines Tages – das Datum weiss ich nicht mehr – weckten mich Rufe, man sollte sofort alle Fenster öffnen. Es war nicht ferner Artilleriebeschuß, den ich im Halbschlaf zu hören glaubte, es waren Detonationen von Sprengladungen, mit denen die Brücken im ganzen Tal in die Luft gejagt wurden. Der Nazibürgermeister stand auf der Strasse und stritt mit den Soldaten, die ihren Befehl ausführen wollten. Er versuchte ihnen den Unsinn dieses Unternehmens klar zu machen und die Folgen für die Landwirte, die nicht mehr auf ihre Felder kämen. Vergebens. Die Soldaten wollten nicht fünf Minuten vor 12 noch wegen Befehlsverweigerung erschossen werden und bedrohten ihrerseits den Bürgermeister – und so flogen die Brücken allesamt in die Luft.
Damals führte die Strasse noch durch alle Dörfer, bald links, bald rechts der Wiese. Den weiteren Tag verbrachte man in den Dörfern damit, die beschädigten Dächer zu reparieren. Der Luftdruck hatte Ziegel heruntergeschlagen oder verschoben, wenn nicht gar Steine eingeschlagen hatten. Und war in der Nähe irgendwo ein Fenster vergessen worden, dann war es hin. Die paar Kinder, die noch in die Schule kamen, schickte ich wieder heim.
Das waren die letzten deutschen Truppen, die wir sahen. Man fragte sich, wohin sie eigentlich noch ziehen wollten. Anscheinend ist die einmal in Gang gesetzte Kriegsmaschinerie nicht so leicht zu stoppen, weil im Stadium der Auflösung jeder vor jedem sich fürchten muß, den er nicht kennt. Der Bürgermeister ordnete nun an, daß der noch im ehemaligen Laden gelagerte Zucker auf die Familien verteilt werde.
Mit einem Zehnjährigen zog ich durch den Wald hinauf, um für einige Familien dort die Ration abzuholen. Die Leute waren großenteils wieder an die Arbeit gegangen.
Als nächstes wurde angeordnet, daß die im Dorf in angemieteten Räumen von Lörracher Geschäftsleuten ausgelagerten Textilien und Schuhe verteilt wurden. Wunderbare Dinge. „Vorkriegsware“ war das, wie man seit Jahre nichts mehr gesehen hatte. Es gab nur Kriegsware auf Kleiderkarten zu kaufen, wenn überhaupt etwas „aufgerufen“ war, oder nur in Sonderfällen z.B. wenn man Witwe geworden war. Meine besten Kleider waren aus einem Vorhang und aus dem Schwesternkleid meiner Mutter vom Weltkrieg. Weshalb sollten diese Schätze, schön verpackt in Pappschachteln, wie sie waren, den Franzosen demnächst in die Hände fallen?
Auch in den Häusern bereitete man sich vor auf die kommenden Ereignisse: Der Honig und der Schmalzhafen, ein Schlegel Öl und Sterilisiergläser wurden in einer Kiste unter dem Leiterwagen im Schopf verlocht. Die eben verteilten Schuhe, ein Stümpfli Weizen und ein Stück Speck wurden im oberen Teil des Hühnerstalls eingemauert und natürlich der Schnaps. Letzterer nicht nur wegen seines Wertes als Heil- und Tauschmittel, sondern um Orgien der Besatzer zu vermeiden. Den Bauern ist der Instinkt für richtiges Verhalten beim Herannahen fremder Truppen durch regelmäßiges Üben seit Jahrhunderten erhalten geblieben!
Am meisten bewegt hat mich in jenen Tagen das Schicksal einer Frau. „Meine“ Familie war bisher als politisch unzuverlässig nicht für würdig befunden worden, einen polnischen Kriegsgefangenen als Hilfe zugeteilt zu bekommen. Der Sohn allerdings „durfte“ nach Rußland – man hatte schon seit Stalingrad keine Nachricht mehr von ihm. Und der Bauer selber wurde zum Volkssturm geholt. Ausgerechnet jetzt bekam man eine Ukrainerin „zugeteilt“. Man wußte wohl nicht wohin mit diesen Menschen, sie wurden in einem Transport aus einer anderen Gegend herumgeschoben und aufs Land verteilt. Unsere Ukrainerin war eine große, starke Person. Sie trug eine dicke, wattierte Jacke, lange Hosen und ein Kopftuch. In einem Sack mit Schnüren als Träger hatte sie ihre Habseligkeiten. Ich schätze, sie war 30 bis 40 Jahre alt, müde und traurig. Eine Verständigung mit Worten war nicht möglich. Sie saß in der Küche und flickte Säcke, während wir im Schopf die Lebensmittel versteckten. Vielleicht hatte sie vorher irgendwo in der Rüstung arbeiten müssen. In Karlsruhe hatte ich viele Frauen wie sie gesehen, wenn Schichtwechsel war. Wahrscheinlich hatte sie hier bessere, vertrautere Verhältnisse gefunden – aber keinen Menschen aus ihrer Heimat.
Kaum war sie gekommen, kam schon Order, sie müsse zur Bahn nach Schopfheim, wo man einen Sammeltransport zusammenstelle. Wie sollte wir dieser Frau klarmachen, daß nicht wir sie fortschickten? Wie sollte sie nach Schopfheim finden? Was würde weiter mit ihr geschehen, wo alles in Auflösung begriffen war, dazwischen manches aber noch funktionierte, jedoch ohne Zusammenhang ganz sinnlos war?
Ich zeigte ihr den Bach, den unterm Garten vorüberfließt. Und dann zeichnete ich ihn auf ein Papier samt allen Dörfern, die sie passieren mußte. Und zuletzt den Bahnhof und einen Zug. Den Marschbefehl sollte sie unterwegs vorzeigen, dann würde man ihr weiterhelfen. Unterdessen hatte die Bäurin ihr einen Laib Brot, Speckmöckeli und dürre Schnitz parat als Wegzehrung. Unterwäsche aus Großmutters Nachlaß hatte sie schon vorher bekommen. Ihr Sack war schwerer als beim Kommen, als sie davonging ins Ungewisse. Ich schaute ihr nach, bis sie um die Kurve verschwand. Würde sie jemals ihre Heimat erreichen? Was würde uns die Zukunft bringen?
Dann kam die Kunde, daß die Franzosen in Tegernau seien. Einer aus dem Dorf hatte sie mit eigenen Augen gesehen. Über Wies-Salneck seien sie gekommen. Es würde nur noch Minuten dauern, bis sie da seien.
Das Nächstliegende für mich war, das Schaf in Sicherheit zu bringen, das hinterm Haus im Häuhag weidete. Ich versteckte es in einem leeren Saustall. Es war besonders wertvoll, denn es war ein sogenanntes „schwarzes Schaf“. Der Schäfer hatte es wegen einer Fusskrankheit als Lämmlein dagelassen. Inzwischen war es herangewachsen und nirgends registriert, also eigentlich nicht vorhanden, amtlich nicht „bewirtschaftet“.
Aber die Franzosen kamen nicht an jenem Tag. Sie waren von Kandern gekommen und über Gresgen weitergezogen. Es waren Franzosen, die am 24. April durchzogen. Die Marokkaner kamen erst später nach Tegernau. An welchem Tag sie dann unser Dorf erreichten, weiss ich nicht mehr genau. In meiner Erinnerung waren es überraschend wenig, vielleicht so 12 Mann. Sie hatten zwei Gefangene bei sich. An den einen erinnere ich mich besonders gut. Er war in Pantoffeln, hatte zwar noch einen Waffenrock (aber ohne Koppel und Abzeichen), der ihm vermutlich zum Verhängnis geworden war. Uralt kam er mir vor. Wahrscheinlich war er beim Volkssturm gewesen und beim Umziehen geschnappt worden.
Der Trupp kam die Landstrasse herauf bis zum Dorfende. Ein MG hatte sie dabei, das sie bei unserem „Iifahr“ in Stellung brachten. Der MG-Schütze behielt den Wald im Auge, während die anderen Soldaten Pause machten. Einen Zivilisten hatten sie dabei, der als Dolmetscher fungierte. Sein Deutsch hatte einen Akzent. der auf Polen als Heimat schließen ließ. Vielleicht war er Landarbeiter gewesen und kannte die Gegend. Er verlangte etwas zu trinken für die Soldaten.
Diese blieben aber oben auf der Strasse. Sie trauten dem Frieden nicht und wirkten trotz MG und ihren sonstigen Waffen unsicher, was die Situation brenzlig machte. So bekam ich einen Krug Wein in die Hand und ein paar Gläser und stieg mit etwas wackligen Knien das Treppchen hinauf auf die Strasse. Ich kratzte mein Schulfranzösisch zusammen und fragte, ob Lörrach besetzt sei, ob die Stadt kaputt sei. Sie wußten aber nichts über die Lage, oder durften vielleicht auch nicht schwätzen darüber.
Zum Glück waren sie durch das Gespräch und den Durst etwas abgelenkt, doch mir blieb fast das Herz stehen, als ich den 16jährigen Rudi hinter der Holzbiege auftauchen sah. Geistesgegenwärtig warf er eine Aktentasche unter die Biege und kam mit erhobenen Händen die Böschung herauf auf die Strasse, wo der vergeisterte Bursche als harmlos erkannt wurde. Ich aber wußte, daß in der Tasche eine Pistole lag, die er in den Bach werfen wollte. Es war zwar ein uraltes Ding, in diesem Augenblick aber alles andere als harmlos.
Keine fünf Meter entfernt lagen auch zwei Karabiner unter der Laubstreu. Natürliche nicht, um etwas mit ihnen gegen die Truppen zu unternehmen, sondern weil man nicht wußte, was tun damit. Die Volkssturmmänner waren in einer verzwickten Lage: Ein Soldat, der sein Gewehr weggeworfen hatte, mußte als fahnenflüchtig mit Erschießung rechnen, wenn er auf Schleichwegen heim wollte und unversehens auf noch intakte Verbände oder ebenfalls auf der Flucht befindliche Bonzen traf. Hatte er sich aber mit Gewehr bis nach Haus durchgeschlagen ohne Kenntnis der militärischen Lage im Detail, konnte ebenfalls Erschießung drohen, eben weil er noch Gewehr und Ausrüstung feldmarschmäßig bei sich hatte, und ihm die Eroberer vor der Haustür begegneten, ehe er Zeit hatte, alles verschwinden zu lassen.
So kamen die Gewehre unter die Streu – und wir alle zum Glück ohne Schaden davon, denn die Franzosen zogen weiter gen Neuenweg. Nachmittags gingen wir auf den Schneckenberg, um Kartoffeln zu setzen. Das Haus stand allein an der Strasse, die Tür war abgeschlossen, der Schlüssel gelegt, wie an jedem anderen Tag auch. Gegen Abend sahen wir vom Berg aus die Franzosen zurückmarschieren. Sie stiegen auf der einen Seite in den Bach hinunter, hopsten über die Trümmer der Brücke und stiegen auf der anderen Seite wieder hinauf.
Das Dorf wurde nicht besetzt. Die Männer machten sich daran, große Tannen zu fällen, um eine Behelfsbrücke zu bauen. Die Zufahrt über die Schulmatte bot sich an. Der Bürgermeister, der die Matte genutzt hatte, konnte nichts dagegen haben. Ich weiss nicht, wann er interniert wurde und wann er wiederkam. Es war ohne Bedeutung. Übrigens gab es in jenen Tagen Knechte im kleinen Wiesental in großer Zahl, sogar auf den abgelegensten Höfen. Und manch Räuchlein stieg aus einsamen Scheunen, nicht nur, weil ehemalige Soldaten auf der Durchreise waren, sondern weil manche – auch aus der Kreisstadt – dort ihre privaten Papiere oder die Unterlagen ihrer Parteiorganisationen verbrannten.
Ich wusste immer noch nicht, was daheim in Lörrach los war. Erst am Sonntag, den 6. Mai kam ich durch einen seltsamen Umstand dazu, selber nachzusehen.
Es hielt nämlich ein französischer PKW vor dem Haus. Ihm entstiegen ein Offizier, sein Fahrer, ein weiterer Soldat mit MP und eine Lörracherin, die nach ihrer ausgelagerten Ware sehen wollte. Diese Ware war ihr allerdings zum Teil unterwegs schon begegnet: Sonntäglich gekleidete Kinder in unrechtmäßig annektierten Stricksachen.
Die „fremden Herrschaften“ wurden hereingebeten zum Kaffee, der schon angebrüht war, allerdings hatte man weniger an diese Gäste gedacht, sondern an die glückliche Heimkehr und den Geburtstag des Hausherrn.
Die Geschäftsfrau verlangte, daß alles von den Leuten wiedergebracht werden müsse, sie käme morgen mit einem Laster wieder, um die Ware abzuholen. Bei der Rückendeckung, mit der sie angefahren kam, wirkte das wie ein Befehl. Ich sah plötzlich eine Chance, schnell eine Nacht nach Haus zu kommen und nach meinen Eltern zu sehen. Ich faßt mir ein Herz, fragte und wurde mitgenommen. Ich zog schnell meine Rot-Kreuz-Tracht an und fühlte mich geradezu neutral und sicher im Helferinnenkleid.
Es war eine seltsame Fahrt über Weitgenau nach Lörrach und eine noch seltsamere Gesellschaft im Wagen: Vorn der Offizier und der Fahrer, dann die Geschäftsfrau und die Schwesternhelferin und dahinter der Mann mit der MP, der das Amt des „Lucki-Lucki“ versah. Unablässig spähte er in die Wälder. Man fürchtete sich vor Hinterhalten der SS.
Daheim waren alle gesund, das Haus heil geblieben. Ereignisse, wie sie mit der Etablierung von Besetzungstruppen einhergehen, waren noch nicht in Gang gekommen, die bisherige Obrigkeit war hinweggefegt. Dieser Abend war so ruhig, als ob man sich in der Windstille in der Mitte eines Wirbelsturmes befände.
Am nächste Morgen ging es mit dem Lastwagen zurück. Den ganzen Tag stand ich im zugigen Tenn, um die Ware wieder einzupacken, die die verängstigten Frauen fast vollständig zurückbrachten. Wegen der Schuhe hat nie jemand reklamiert.
Und am nächsten Tag war dann der 8. Mai gewesen, nach dem Sie gefragt haben. An dem Tag war ich wie gesagt im Stall und auf dem Kartoffelacker. Vielleicht ist der Bericht eine Erklärung dafür, daß mich nur meine kleine Welt forderte und die großen Ereignisse weit weg waren.
Heute wird das alles „aufgearbeitet“, wie man sagt. In Wort und Bild in den Medien. Ernsthaft und oberflächlich. Dichtung und Wahrheit gemischt ergeben Ergiebiges! Für manche scheint das das Wichtigste, man lebt und avanciert nach Einschaltquoten.
Die Alten sollten nicht nach Entschuldigungen suchen für Dinge, die nicht zu entschuldigen sind. Die Jungen, die „aufarbeiten“ wollen, sollten schon ein wenig tiefer graben und nicht vom heutigen Standpunkt in einer veränderten Welt allein urteilen, in der sie leben. Von der nächsten Generation werden sie einmal gefragt werden, wieso sie es zuließ, daß Atomraketen in unsere Welt gestellt wurden, die Umweltzerstörung aus kurzsichtigen Motiven weiterbetrieben wurde, auch als man es schon wissen hätte müssen.
Ich werde die Antworten der jetzt vierzigjährigen „Macher“ nicht mehr hören.
Was werden meine Enkel für eine Antwort erhalten? Wird es überhaupt noch Fragen und Antworten geben?