DEB, 1990 Australien, by Dagmar Perinelli

ZITTIG-Texte zum deutschen Nationalsozialismus

Widerstand und Verfolgung in der Regio

Eine Serie von Manfred Bosch

1. Die Machtergreifung

Erstveröffentlichung in ZITTIG 54, März 1983

Mit diesem Aufsatz beginnen wir die Serie WIDERSTAND UND VERFOLGUNG IN DER REGIO, die sich mit den Vorgängen und vor allen den Auswirkungen der Machtergreifung der Nationalsozialisten vor 50 Jahren in unserer nähren Umgebung beschäftigt. Dabei geht es nicht darum, auch in der ZITTIG nachzuholen, was uns die „große“ Presse in den zurückliegenden Wochen schon vorgeturnt hat. Im Gegenteil: wir wollen den auffallenden Mangel an regionaler Information zu diesem Thema abhelfen. Von einigen Veranstaltungsberichten zum 30. Januar abgesehen, hat die Presse unserer Region in Bezug auf den lokalen Sektor und unseren Nahbereich fast vollkommen versagt.

Die Provinz – das war noch bis vor wenigen Jahren kein Aspekt für die Behandlung des Themas Nationalsozialismus. Das „Dritte Reich“ erschien als ein Ergebnis von Zentren und Eliten, die fernab von uns lagen bzw. am Werk waren als eine sozusagen, von oben verordnete Diktatur, der gegenüber es scheinbar nur die „Alternative“ Stillhalten oder Mitmachen gab. So hat denn auch eine jüngere Generation, die den Faschismus nicht mehr selbst erlebt hat, die Auseinandersetzung mit ihm vornehmlich als Selbstrechtfertigung erlebt („Wenn Du da nicht mitgemacht hättest, hätten sie Dich sofort geholt“.

Solche Bilder und Vorstellungen werden umso ungenauer und falscher, je weiter nach „unten“ man steigt. Die kleinräumige Betrachtung, die Regional- und Lokalstudie vermag zu zeigen, dass „da wo Unterdrückung, auch Widerstand war“ (Bertold Brecht). Was sonst in den Mittelpunkt des Interesses gerückt ist, ist eine Art Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus, die nicht länger von der Unentrinnbarkeit totalitärer Herrschaft ausgeht und die gerade für den pädagogischen und staatsbürgerlichen Bereich von Bedeutung ist, wird damit doch politisches und soziales Verhalten im eigenen, also gewohnten und überprüfbaren Bereich möglich und nicht mehr nur an mehr oder weniger fremden Fällen und Modellen.

Nicht um das Handeln an der Spitze, sondern um das Geschehen in der Breite geht es also: nicht um den Nachvollzug der „großen Politik“, sondern um Möglichkeiten des Handelns und der Verantwortlichkeit auch unter totalitären Bedingungen.

Die Durchsetzung des Nationalsozialismus in der Region oder: Wer verteidigte die Weimarer Republik?

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten kann der „Ereignis 1933“ nur zum Teil erklären. Nicht weniger Gewicht muss auf die „Machtüberlassung“ gelegt werden, also der Frage gelten, weshalb die Bereitschaft zur Verteidigung der ersten deutschen Demokratie nicht stärker ausgebildet, nicht vehementer betrieben wurde.

Aus Anlass des 50. Jahrestages der Machtergreifung war darüber viel zu lesen, manches an Erklärungen zu hören. Auf die verspätete Nationenbildung der Deutschen wurde da abgehoben, auf die Hypothek des ersten Weltkrieges mit seinem Friedensdiktat von Versailles, auf die Schwäche zivilen Denkens vor dem militärischen. Da war von Fehlern und Schwächen der Weimarer Demokratie und Verfassung die Rede; von ihrem hypertrophen Legalitätsprinzip, das es den Nazis relativ leicht machte, sich im Waffenarsenal der Demokratie zu bedienen, um das „System“ damit zugrunde zu richten; da ging es um die permanenten Notverordnungen in der Niedergangszeit, die die Demokratie in eine präsidiale und autoritäre Obrigkeitsregierung verwandelte und den Zwang zum parlamentarischen Kompromiss aufhob; da war die Rede von einem Vakuum, entstanden durch geistige und moralische Orientierungskrisen; und da sei schließlich die katastrophale Wirtschaftssituation gewesen, die – verbunden mit einem schwindenden Vertrauen in die scheinbar hilflose Demokratie; die Nazis an die Macht geschwemmt habe. Was immer da richtig und scharfsinnig an Ursachen genannt wurde – eine Behauptung befand sich so gut wie immer darunter: dass nämlich die Radikalen von links und rechts den Zerfallsprozess der Demokratie beschleunigt hätten, diese zwischen den beiden „Extremen“ schließlich zerrieben worden sei. Eine Demokratie ohne Demokraten also? Das Schicksal einer zwischen die Mühlsteine geratenen „hilflosen Mitte“?

Solche Behauptung sind es – neben einer sachlichen Prüfung – wert, einmal auf das Interesse befragt zu werden, das ihre Vertreter daran haben. Man wird in aller Regel feststellen, dass solche Interpretationen einem bürgerlich bis konservativen Geschichtsverständnis entsprechen: ja, oft werden sie von den politischen und ideologischen Nachfahren derer vertreten, die zur Verteidigung der Weimarer Republik selbst nicht allzu viel beigetragen haben, sondern staatsautoritären Lösungen zugestimmt und – etwa mit dem „Ja“ zum Ermächtigungsgesetz – die Diktatur mit ermöglicht haben. Und dies keineswegs nur auf Reichsebene: auch im badischen Landtag wurde am 09. Juni 1933 mit den Stimmen von NSDAP, Deutsch-Nationaler Volkspartei und Zentrum – gegen die Stimmen der SPD; die Mandate der KPD waren bereits kassiert – ein badisches Ermächtigungsgesetz beschlossen. Und war damals schließlich nicht auch jene zynische Haltung weit verbreitet, wonach man die politischen Extreme sich gegenseitig erledigen lassen zu können glaubte? In diesem Sinne hatte etwa Fritz Schäffer von der Bayrischen Volkspartei ein Verbot der NSDAP 1922 nach den Coburger Ausschreitungen abgelehnt – mit dem Argument: „Soll es unsere Aufgabe sein, dem Marxismus einen Gegner zu ersparen?“

Ohne dadurch einzelnen Vertretern anderer Gruppen und Parteien unrecht bzw. differenzierten Oppositionshaltungen Abbruch tun zu wollen, muss doch der konsequenteste und nachhaltigste Protest gegen Rechtsentwicklung und Faschismus bei den Linksparteien und der Arbeiterbewegung gesucht werden. Dies gilt über die notwendige Kritik hinaus, dass SPD und Gewerkschaften im entscheidenden Augenblick die Ausrufung des Generalstreiks versäumten und die KPD zu spät vom Kampf gegen das „System“ auf die Verteidigung der Republik umschaltete. An Anlässen, vor recht auf der Hut zu sein, hat es im Laufe der Weimarer Demokratie zu keiner Zeit gefehlt. Seit Beginn durchzieht sie eine rote Blutspur von Mord, Gewalt und Reaktion – von den Morden an Luxemburg und Liebknecht, Eissner und Gareis, Landauer und Paasche, Erzberger und Rathenau über den Kapp- und Hitlerputsch zur Harzberger Front.

(Anmerkung 1: Nichts gibt über das politische Klima der Weimarer Republik besser Auskunft als E.J. Gumbels: „Vier Jahre politischer Mord“. Gumbel errechnete 354 politische Morde vor rechts (für die 90 Jahre, 2 Monate Einsperrung, 730 M Geldstrafe und eine lebenslängliche Haft verhängt wurden) und 22 Morde von links (diese wurden mit zehn Erschießungen, 248 Jahren und neun Monaten Einsperrungen sowie drei lebenslänglichen Zuchthausstrafen gesühnt). Vergleiche Neuauflage Heidelberg, 1980, Seite 78 und 80.)

Fortsetzung folgt

Seiten: 1 - 2 - 3