Der verhinderbare Tod an Meningokokkensepsis/ Waterhouse Friedrichsen Syndrom des Michel Keller: Schläft das Gesundheitsamt?
DER WEG DER ELTERN AN DIE ÖFFENTLICHKEIT
Robert Keller geht an die Öffentlichkeit, beschuldigt das staatliche Gesundheitsamt Lörrach, daß es nach dem ersten Todesfall, dem von Linda Perez, den Namen und die Kranheitssymtome geheimgehalten habe. Zwei Tage vor Heilig Abend organisiert Robert Keller eine Demonstration gegen „die mangelnde Information des Gesundheitsamtes“. Jetzt reagiert Dr. Dr. Anette Brandner, die Leiterin des Amtes, sofort: Am Donnerstag, den 22. Dezember wird am 9 Uhr das Gesundheitsamt geöffnet sein, teilt sie der örtlichen Presse mit: „Wir stehen den Eltern Rede und Antwort, werden öffentlich Erläuterungen geben und sind zu jeder Auskunft bereit.“
25 Bürger demonstrieren an diesem Tag. Auf selbstgeschriebenen Transparenten („Wir klagen an“) machen Eltern und andere Bürger ihre Trauer und Empörung Luft. Im Gegensatz zu den meisten Demonstrationsteilnehmern weigert sich Robert Keller an der Diskussion mit den Ärzten des Gesundheitsamtes in den Räumen des Gesundheitsamtes teilzunehmen. In einer Tageszeitung steht danach, Keller habe gerufen: „Mit Mördern diskutiere ich nicht“. Doch Robert Keller bestreitet, daß er dies damals gesagt hat und wird von anderen Demonstrationsteilnehmern bestätigt.
Am 28. Dezember 1984 vermerkt die Leiterin des Gesundheitsamtes: „Das staatliche Gesundheitsamt hat die Aufgabe, die Weiterverbreitung übertragbarer Krankheiten zu verhüten“ und „Da es nicht voraussehbar ist, ob überhaupt und wann ein weiterer sporadischer Ausbruch dieser Krankheit im Landkreis zu verzeichnen ist, halte ich weiterhin eine auf dieses seltene Krankheitsbild gezielte öffentliche Information für problematisch. Schwierige wissenschaftliche Sachverhalte lassen sich nicht in der Tagespresse darstellen.“
Der Vorwurf Kellers, hätte er von den Symptomen der Krankheit gewußt, hätte er seinen Sohn Michel retten können, gibt Dr. Brandner an diesen zurück: „Die Aerzte sind in Kinderkrankheiten erfahren und geben allen Eltern auf Wunsch Auskunft. Wiederholt haben wir darauf hingewiesen, daß Selbstmedikation gefährlich sein kann und fiebernde Kinder einem Arzt anvertraut werden.“
Am Tag der Demonstration besorgter Bürger leitet Lörrachs Oberstaatsanwalt Dr. Alexander Gramlich ein Untersuchungsverfahren ein.
Die Eltern Michels, deren Trauer sich mit der Wut auf das Gesundheitsamt verbindet, versuchen weiter auf den Tod Michels, die Versäumnisse des Gesundheitsamtes und die tödliche Krankheit aufmerksam zu machen. Kann mit ihrem Engagement der kleine Michel nicht mehr lebendig gemacht werden, so doch vielleicht verhindert werden, daß in Zukunft Eltern – in Unwissenheit gehalten – ähnliches erleben müssen, wie die Familie Perez und Keller.
Die Eltern Michels beziehen sich in ihrer Kritik am Gesundheitsamt auf die mündliche Versicherung des Leiters der Kinderklinik, Dr. Stahl, daß die Behandlungsmethoden der Krankheit die letzten Jahre große Fortschritte gemacht habe und es inzwischen möglich sei, Kinder, die frühzeitig ins Krankenhaus eingeliefert werden, zu retten. Frau Keller: „Früher war diese Kinderkrankheit unheilbar, doch inzwischen ist klar, daß bei frühzeitiger Diagnose das kranke Kind gerettet werden kann – jetzt müssen die Eltern umfassend informiert werden.“
Ende 1984 schreibt Robert Keller mit weißer Kreide an die neue Autobahnbrücke bei der Lucke Lörrach.
„Michel, gestorben. 8.12.84 verlangt genaue Informationen!
Laßt euch nicht ABWIMMELN“
V.i.S.d.P. Robert Keller.
Michel, Staatliches Gesundheitsamt Lörrach
Kriminalhauptkommisar Müller leitet derweil die Untersuchungen der Lörracher Kripo, vernimmt Aerzte und Eltern, doch KHM Müller entwickelt bei der Untersuchung nicht viel Eigeninitiative. Die anderen Krankheitsfälle in der Region werden ihm vom Ehepaar Keller mitgeteilt, erst dann lädt er die betreffenden Personen vor. Als ihm das Ehepaar Keller von weiteren Krankheitsfällen in Bad Säckingen und im Schweizer Riehen berichtet, wo die genauen Umstände Kellers nicht bekannt sind, erklärt er sich außerstande, diese Fälle nachzuprüfen. Mitte Januar kommt Kriminalhauptkomisar Müller bei der Prüfung „eines strafrechtlichen Verhaltens“ zu der Überzeugung, daß keinem der Beteiligten irgendwie Schuld zuzuschreiben sei. Müller: „Auch dem staatlichen Gesundheitsamt können nach dem jetzigen Sachstand keine strafrechtlich relevanten Vorwürfe gemacht werden, weil die getroffene Ermessungsentscheidung – das Nichtinformieren der Öffentlichkeit – keinen offensichtlichen Ermessensmaßstab zeigt.“
Im Laufe des Ermittlungsverfahrens werden auch genauere Zahlen ab 1979 für den Kreis Lörrach bekannt:
1979 3 Krankheitsfälle
1980 2 Krankheitsfall
1981 2 Krankheitsfälle, davon 1 Todesfall
1982 5 „, davon 1 Todesfall
1983 4 „
1984 4 „, davon 2 Todesfälle.
Unklar bleibt, wieso sowohl Dr. Brandner, als auch Kripobeamter Müller die Zahlen vor 1979 nicht aufschlüsseln. Unklar bleibt auch, warum das Gesundheitsamt nicht verstärkt die Aerzte darauf hinwies, diese Erkrankungen zu melden (Dr. Brandner: „Erfahrungsgemäß wird dieser Meldepflicht nicht immer nachgekommen“)
Unterstützung findet Frau Dr. Brandner sowohl beim Regierungspräsidium, als auch beim Leiter der Lörracher Kinderklinik, Dr. Med. Michael Stahl: „Es ist sicher, daß man auf keinen Fall von endemischen oder Verläufen sprechen kann, die Anlaß dazu gewesen wären, großangelegte Aufklärungsaktionen, insbesondere für die Öffentlichkeit zu starten. Aus diesem Grund ist es aus meiner Sicht absolut unsinnig bzw. wenig sinnvoll, bei solch auftretenden Einzelfällen von Seitens des Gesundheitsamtes Aktionen zu starten, denn sonst müßte man solche Maßnahmen bei jedem Fall wiederholen; Im übrigen gibt es ja auch andere tödlich verlaufende Krankheitsbilder, die vereinzelt auftreten und durch Übertragung ausgelöst werden, wo man solche Maßnahmen in die Wege leiten müßte."
Im Februar wird Robert Keller von Beamten der Lörracher Polizei beim Beschriften der Autobahnbrücke beobachtet. Wieder mahnt er mit Kreideschrift gegen das Vergessen.
Mithilfe des SPD-Abgeordneten Peter Reinelt aus Weil wird Keller beim Sozialministerium vorstellig, beim Landrat und beim Regierungspräsidium.
Landrat Leible versichert Ende März in einem Brief an das Ehepaar Keller noch einmal seine Anteilnahme an dem schmerzlichen Verlust, teilt ansonsten aber nur Meinungen des Gesundheitsamtes mit. „Das Gesundheitsamt verweist darauf, daß es zur Zeit im Bundesgebiet rund 6 Mio. Kinder unter 10 Jahren leben, von denen rund 90% die üblichen, mit Hautausschlägen einhergehenden Kinderkrankheiten durchmachen. Für das Jahr 1983 seien im Bundesgebiet 798 Mingokokken-Infektionen gemeldet worden, für das Auftreten des Waterhouse Friedrichsen Syndroms gebe es keine statistische Unterlage. Nach Schätzungen der Universitätsklinik Freiburg kommen auf 50 bis 10 Meningokokken-Erkrankungen ein Waterhouse Friedrichsen Syndrom, was bedeute, daß derzeit mit 8 bis 16 Erkrankungen pro Jahr in der gesamten BRD gerechnet werden muß."
Während Landrat Leible Brandners Stellungsnahme weitergibt, daß inzwischen sowohl in der Kreisärzteschaft Lörrach über das Waterhouse Friedrichsen Syndrom berichtet worden sei und die Bezirksärztekammer in Freiburg den „pädiatrischen Notfall“ behandelt hätte, äußert Dr. Brandner sich gegenüber Landrat Leible wesentlich ungehaltener – offensichtlich sind ihr Kellers Aktivitäten lästig.
Brandner: „Die jetziger Bemühungen der Eltern um die Verhütung weiterer Todesfälle sind psychologisch nicht mehr nachvollziehbar“ und „Bei aller Anteilnahme und bei Würdigung der schmerzlichen Erfahrung für die Eltern Keller kann aber aus diesem schmerzhaften Ereignis nicht das Recht abgeleitet erden, unbescholtene Aerzte des Mordes zu bezichtigen und eine korrekt arbeitende Behörde auf dem Weg einer Mund-zu-Mund-Desinformation zu disqualifizieren“. Doch Frau Brandner ist verunsichert. Brandner an Gramlich: „Ich habe zwar kein Parteibuch und keinen Fürsprecher, habe aber den festen Glauben an die Gerechtigkeit und die Gleichbehandlung aller Bürger.“
STRAFANTRAG
Als sich Anfang April abzeichnet, daß die Ermittlungen beendet, die Staatsanwaltschaft kein Verschulden sieht, stellt am 22. April das Ehepaar Keller über das für Umweltangelegenheiten spezialisierte Anwaltsbüro Siegfried de Witt und Hansjörg Wurster aus Freiburg, Strafantrag gegen die Leitung des staatlichen Gesundheitsamtes, gegen die Leitung der Fachaufsicht führenden Behörde, den Präsidenten des Regierungspräsidiums Freiburg und den Innenminister des Landes Baden-Württemberg wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassung.
Rechtsanwalt Hanspeter Schmidt, vom Freiburger Anwaltsbüro: „Es gehörte zu den Amtspflichten der Leitung des Gesundheitsamtes, die Öffentlichkeit über die Petechien gebotenen Notfallmaßnahmen zu informieren, angesichts des dem Amt bekannten Verhalten der niedergelassenen Aerzte im Landkreis auf ihre Pflicht zur Fortbildung aufmerksam zu machen und sie über die Bedeutung der Petechien zu informieren. Hätte das Gesundheitsamt Lörrach entweder die niedergelassenen Aerzte oder die breite Öffentlichkeit in ähnlicher Weise informiert, wie das Gesundheitsamt Konstanz diese tat, wäre Michel Keller genesen.“
Zwei Monate sind seitdem vergangen. Was wird der Strafantrag bringen. Dem Ehepaar geht es nicht um Rache für Michel, dieser Gedanke ist ihnen fremd. Und ist ihr Beharren zwar ungewöhnlich, bleibt es nicht nur psychologisch verständlich, sondern auch solange richtig und notwendig, bis zuständige Behörden ihre zurückhaltende Politik des Schweigens aufgeben. Solange Behörden, wie das Gesundheitsamt Lörrach, die Bevölkerung nur mit Widerwillen informieren, solange sind solche Aktionen wie die der Familie Keller notwendig. Gäbe es nur mehr so besorgte Eltern, wie die des toten Michels – unser Gesundheitswesen würde dann bald den Namen verdienen, den es heute noch ungerechtfertigterweise trägt.
Die Differntialdiagnose der Meningokokkensepsis und die Behandlung des Waterhouse Friedrichsen Syndroms.
Von Hanspeter Schmidt, Anwaltsbüro De Witt/Wurster, Freiburg
Erstveröffentlichung in ZITTIG, Nr. 74/75, Juli/August 1985
Unter dem Waterhouse-Friedrichsen-Syndrom versteht man ein fulminant verlaufendes septisches Krankheitsbild mit schweren Schocksymtomen und ausgedehnten, zunächst flohstichartigen (Petechien) dann flächenhafte Hautblutungen, dessen Erreger meist Meningokokken sind. Liquorveränderungen fehlen oder sind nur geringfügig ausgeprägt. Die Sektion deckt als charakteristischen Befund eine beidseitige Nebennierenblutung auf. Das Waterhouse-Friedrichsen-Syndrom beschreibt mithin eine pathologisch-anatomische Diagnose, die häufig und typisch bei einer perakuten Meningokokkensepsis gestellt wird. Meningokokken sind für individuelle sehr unterschiedliche Prägungsbilder verantwortlich, die auf einer Skala zwischen eitriger Meningitis einerseits und reiner MMinigokokkensepsis andrerseits liegen. Das Waterhouse-Friedrichsen-Syndrom beschreibt eine besondere Verlaufsform der Sepsis.
Der Sepsis liegt eine Einschwemmung von bakteriellen Toxinen in die Blutbahn zugrunde. Die Krankheitszeichen sind plötzlich einsetzendes hohes Fieber und nach einigen Stunden flohstichartige, punktförmige Hautblutungen, die sich dann meist nach mehr als acht Stunden flächenhaft ausweiten. In diesem späteren Stadium treten dann blasslivide Flecken auf, sogenannte intravitale Leichenflecke.
Die Einweisung ins Krankenhaus ist unbedingt geboten, wenn die Differentialdiagnose des Hausarztes den Verdacht einer Meningokokkensepsis ergibt. Dieser Verdacht entsteht notwendig, wenn der Hausarzt pathognomonische, also für die Krankheit typische, andere Erkrankungen weitgehend ausschließende Symtome erkennt. Pathognomonisch für die Meningokokkensepsis sind Petechien.
„Wichtigste Kennzeichen sind die Blutungsherde, die als wenige Petechien vorliegen können oder zahllos und in Flächen bis 5 cm Durchmesser den Körper übersähen können. Ein Teil dieser Herde ist emolisch und durch ausgedehnte Trombosen entstanden, so daß in den folgenden Tagen sich Nekrosen abgrenzen. Die Blutungsherde sind entscheidendes Indiz für die Verdachtsdiagnose Meningokokkensepsis. Einzelne Petechien müssen bei entsprechendem Verdacht gesucht werden, um die Frühdiagnose nicht zur versäumen.“
Michael Hertl, Pädiatrische Differenzialdiagnose, 1977, Seite 136
Die Hautblutungen sind der entscheidende Hinweis auf die Entwicklung einer lebensbedrohlichen Sepsis. Wenn nicht schon während der ersten Stunden des Auftretens dieser Petechien Antibiotika gegeben und möglicherweise ein Teil des Blutes ausgetauscht werden, sind die Genesungschanchen der Erkrankten gering. Aus diesem Grund muß der Hausarzt sicherstellen, daß der Körper des Patienten auf das Auftreten von Petechien hin beobachtet und daß beim Auftreten der Petechien sofort hochdosierte Antibiotika gegeben und die Einweisung ins Krankenhaus veranlaßt werden.
Da die Petechien plötzlich auftreten und sich Meningokokkensepsis durch kein anderes typisches Vorzeichen ankündigt, muß der Hausarzt dafür sorgen, daß die Eltern die Haut ihrer erkrankten Kinder in regelmäßigen Abständen, etwa anläßlich des Waschens mit kaltem Wasser genau betrachten.
Darüber hinaus gehört es aber auch zu den ärztlichen Pflichten, die Angehörigen erkrankter Kinder darauf hinzuweisen, daß sie, wenn Petechien auftreten, das Kind sofort zum Arzt oder ins Krankenhaus bringen müssen. Unterläßt der Arzt diesen Hinweis, werden die Eltern die scheinbar harmlosen, kleinen nur flohstichartigen Blutungen nicht richtig zu deuten wissen. Unterläßt der Arzt die gebotene Aufklärung, werden die Eltern möglicherweise Petechien beobachten, die notwendigen, lebensrettenden Malnahmen, jedoch nicht ergreifen.