Abschiedsfeier: Tschau Ihr, Juli 92
Mit Briefzitaten von Andreas Friedrich, A.W. und Textzitaten von Vaclav Havel, E.T.A. Hoffmann und Helga Königsdorf
Dieter Emil Baumert
I
Bild von fünf Kindern
Vor Dinosaurier-Figuren
Sebl strahlt: er darf die Jüngste der Familie
ganz tragen, sie aus den Tränen in den Schlaf
wiege.
Benny: Im Zentrum, die Knie angezogen, freches
Lachen, noch verdeckt durch die Hand.
Die charmante Links-Aussen. Lisa, ganz Charme
Hey, wem gehört die Welt.
Dazwischen Druschka, die Seele. Schön, aufge-
Hoben zu sein, beschützt.
Jule, das Baby, eingepackt, schreiend.
II
Ein Brief, Anitas Brief,
nach Australien
„Ich bräuchte eigentlich viel mehr Ruhe, Zeit
zum Stillen, Kuscheln und Wickeln, herum-
geschaukelt werden. daneben Lisa, von morgens
bis abends Action, will tanzen, spielen, schwimmen
und zwischendurch natürlich auch gekuschelt
sein. Und danach will ich, die vielleicht auch
mal was will, das kann ich dann auf abends
verschieben, wenn alles schläft und ich mir
eigentlich auch danach fühle.
Tja was soll ich Euch schreiben. Ihr fehlt
mir irgendwie. Komisch, was? Ich kann auch
nicht sagen, was es ist, es sind solche Bilder,
eine über den Postplatz wandelnde Daggi,
Euch beide, wie ihr über den Samstagsmarkt
Schlendert (schon wieder Markt) oder einfach
Der ewig in seinem Sofa sitzende und lesende
Dieter, erst jetzt ist es mir aufgefallen als
Ihr wegward, daß es euch so oft gab, auch
Wenn ich nicht viel mit euch zu tun hatte.“
III
Ein Bild: Vor grüner Wiese das jüngste Kind:
Jule, Zeigefinger und Daumen ausgestreckt,
zufrieden am Bauch der Mutter: ihre Hände
umfassen sie zärtlich, der Kopf abgeschnitten.
„Die Geburt war sehr schön, und sie war sehr
wichtig für mich. Jetzt erst habe ich gemerkt,
wieviel der Kaiserschnitt wirklich ausgemacht
hat, das Gefühl nicht fähig zu sei, mein
Kind selber zu gebären. Mir ist etwas aus
der Hand genommen worden, was ich selbst
hätte schaffen können, und nun hab ich es
geschafft, in Ruhe, nur Frieder, ich und
die Hebamme. Ich habe nun gespürt, daß ich
ganz allen, unheimlich viel Kraft habe, und
das Wissen hat mir unheimlich gefehlt.
IV
Brief Anita, Sommer 1990
Im Moment sind wir offen für Veränderungen.
Ich kann mir gut vorstellen, von Lörrach
Wegzuziehen ich sehe hier in der Gegend keine
Passende Perspektive für mich. Möchte endlich
mal was von Anfang an beginnen. Gemeinsam
mit anderen, und wenn auch mit wenigen,
etwas aufbauen, und nicht in fertige Sachen
einsteigen. Vorstellungen von einem „Neuanfang“
in der Ex-DDR sind gewachsen, die Vorstellungen
sind hoffnungsvoll und spannend.
V
Ein Flugblatt zum 8. März 1990 – Internationaler
Frauentag in Lörrach:
„Ein Tag, der in Erinnerung bleiben wird,
da eine freie Kompanie von ungefähr 200 Bürgerin-
nen oder besser Heroinnen nicht an das Ende
ihres Vorhabens mittels trauern und weinen
kam – den normalen Waffen des schwachen
Geschlechts – sondern ihre Wut zur Hilfe nahm
Und durch ihren kriegerischen Mut zeigte,
daß Hände an Nadel und Faden gewöhnt, auch
geeignet sind zur Waffenführung.“
VI
Frieder an Daggi, Juli 1990
Die Geburt war so, wie Anita es sich gewünscht. Jule
ist in ihrem Bett geboren in der Nacht vom
21./22. Juli, acht Minuten nach zwölf. Da
Sommerzeit gibt es zur Zeit Gruppenbildungen
Krebs oder Löwe, doch das beeinträchtigt die
Konstellationen der Sterne keinesfalls. Wir
Sind sehr glücklich und genießen zur Zeit
Die Ruhe des neuen Lebens.
VII
Frieder an Daggi, September 1990
Hast Du Lust Dir ´n paar Gedanken zur Toleranz
zu machen. Läuft mir oft über ‘n Weg.
VIII
Frieder an Dieter, 13.8.90
Es ist ruhig geworden im Haus. Das wird
Ich nutzen und werde lesen – die Freude kannst
Du sicherlich teilen. „Die Kritik der reinen
Toleranz“. Ein kleines Buch zur Toleranz.
VIIII
Vaclav Havel in Salzburg, 1990
In dieser oder jener Weise sind hier viele
schuldig geworden, es kann uns jedoch nicht
Vergeben werden, und in unsren Seelen kann
nicht Friede herrschen, solange wir unsre
Schuld nicht zumindest eingestehen. Das Einge-
ständnis befreit. Ich weiß, wie es mich selbst
eins frei gemacht hat, als ich in mir selbst
die Kraft fand, meinen eigenen falschen Schritt
zu reflektieren.
X
Frieder, 3. Juli 1990
Am gestrigen Morgen ist mir aber von was
Anderem schlecht geworden, Schilderungen
Der ersten Stunden Währungsunion. Massen
an den Banken, die andere zur Ohnmacht drücken,
durch die Scheiben, Glas, das in´s Fleisch
schneidet. Die Revolution hat ihre graue Masse
gespuckt, wer leistet die Aufarbeitung, werden
wir noch dazu kommen?
XI
Frieder, 6. Juli 1990
Zwischen Lieben und Zorn reift der Mensch
und bewegt sich. Mir tut´s gut wenn Du wütend
bist, da bewegt sich – Deine Lethargie. Dir
fehlt schon immer was an Leidenschaft, Du Löwe.
XII
Woodrock-Programm 1990
Kaum hat mal einer ein bisserl was, gleich
gibt es welche, die ärgert das.
Diese schmerzliche Erfahrung muß auch Alfie
Machen: Seine schönste Blume soll einer Touristen-
Attraktion weichen.
XIII
Frieder, 15. Mai 1990
Es macht verdammt noch mal viel Spaß hier,
also keine Angst deswegen und ich lache allemal
dreimal soviel wie andere.
XIV
Frieder, 29. September 1990
Das Lachen ist nur der Schmerzenslaut der
Sehnsucht nach der Heimat, die im Inneren
Schläft.
E.T.A. Hoffmann
Nun, also hier bestätigt sich wohl, daß Heimat
Immer wieder anders erfahren wird. Denn,
des Öfteren wird mir gesagt, von Leuten aus
früheren Zeiten, daß ich da mehr gelacht
als heut. Damals unverwechselbar, gehe ich
nun dem obigen nach, habe ich Heimat gefunden.
Sehe aber nicht ein, daß deswegen weniger
zu lachen ist.
Damit auf was andere zu denken, was Dich
Immer anstößt, die Lust, der Spaß. In Europa
gilt an einer Sache Lust oder gar Spaß zu
haben als verwerflich, ja wird argwöhnisch
betrachtet.
XV
Frieder, 29. September 1990Wenn wir über Heimat sprechen, einigen wir
uns mit Helga (Königsdorf) übers „einmischen
Dürfen“, bewusst wohl nicht müssen. Aber warum
Hört einer/eine plötzlich auf sich einzumischen?
In dem Sinne habe ich einmal Heimat verloren,
wo ich mich nicht mehr einmische durfte,
und einmal Heimat gewonnen, wo ich mich
wieder einmischen durfte.
XVI
Frieder 29. August 1990
Ansonsten jagen wir hier weder Kängurus noch
anderes Getier, doch wohnt zur Zeit ein Wellensit-
tich im Lädeli, der zugeflogen. Da gibt es
jetzt zwei Fraktionen, für oder gegen und
da es hauptsächlich um Freiheit geht – a
ja die unerschöpfliche Freiheit, welch goldener
Käfig – oder welch Mensch wird in dieser
Natur noch überleben.
XVII
Frieder, Berlin 17. Oktober 90
Dresden, Lausitz, Mecklenburg, Berlin.
Eine Woche Reisen für Frieder. Voller Bilder,
Eindrücke, Gespräche der Entwicklung auch
den Spaß und die Hoffnung entlockt. Und
es ist warm gewesen die ganze Zeit. Pläne
wachse auch. Und liebe Grüße von Frieder.
Der Text steht auf der Rückseite einer schwarz-
Weiss-Postkarte. Ein missmutig blickender Clown,
den Kopf nach links gebeugt, die Augen nach
rechts, hin zur Betrachterin, das Papierfähnchen
der sozialistischen Einheitspartei Deutschlands
hochhaltend.
XVIII
Der Briefkasten ist leer.
Die Aufschrift darauf – made in japan – rät:
keep cool
this side up
keeb dry