DEB, 7/1979

Barcelona

Dieter Baumert. 17. Januar 1994

Die Stadt hat uns gevögelt, sie hat uns, mit Magenschmerzen, verdaut und ausgeschissen, gelangweilt und verwirrt zogen wir von dannen.

Es war ein seltsames Erlebnis. Bieder-alternativen Sylvesterfeiern in unseren Freundeskreisen zogen wir die Eroberung des warmen Barcelonas vor.

Sylvester in Barcelona. Der Tag hatte Rouge aufgelegt, all die hübschen Mädchen aus der Oberstadt hatten ihre schönsten Kleider, das enge Schwarze, angelegt, die Sonne erstrahlte, wie eine liebliche Puffmutter, welch ein verheissungsvoller Tag. Nach dem kurzen Flug hatten sie gleich die wunderschön gelegene Pension gefunden, mitten in der Altstadt, umrahmt von zwei kleinen Plätzen, aus dem Fenster der Blick auf eine Kirche. Sie hatten sich geliebt und waren danach eingeschlafen. Mit diesem Gefühl der Liebe, dem Duft der Erotik, zerwühlten Haaren und glücklichem Blick waren sie durch die Einkaufsstrassen der Stadt gelaufen und die schönen jungen Mädchen hatten ihn aufgesaugt, ihn eingeatmet und voller Erstaunen die schöne grauhaarige Frau an seiner Seite beachtet. Es tat ihm gut, diese Bewunderung, dieses Begehren. Er wuchs, spürte seine Schönheit, seine Attraktivität.

Auf dem Flohmarktplatz herrschte die Sonne, es war kein Gedränge, ab und zu schlenderte er, wie all die anderen, gemächlich an den Ständen vorbei. Da schoss ihm aufs Mal wieder jener beissende Geruch der Geilheit in die Nase, vergleichbar dem Geruch der Kater, von Katzenpusche. Noch war er nicht dahinter gekommen, ob er nur seinen Duft roch oder ob das Zeichen aus seiner Mitwelt kam. An einem Stand spürte er, wie sein Becken plötzlich nach rechts schwenkte, wie in einer Wellenbewegung nach rechts schwenkte, den Arsch einer kleinen Vietnamesin berührte, die ihn erstaunt ansah, er sie auch, dann wandten sie sich voneinander ab. Er war ganz Welle gewesen, ganz dieses sich bewegende Körperteil, dieses in sich swingende Becken.

Am Abend sassen sie dann auf dem Placa del Pi, zu Füssen des sitzenden Alten, junge Leute umrahmten sie, sangen Lieder, rauchten ihre Haschischzigaretten und sie fühlten sich wohl. Die umliegenden Strassencafe waren gefüllt, Touristen und Anwohner zogen vorbei, und die Blicke auf die Bodensitzer waren erstaunt, irritiert, aber nicht ablehnend. Gegen 22 Uhr wurde es kühl und sie zogen sich ins warme Bett zurück.

Der nächste Tag, das neue Leben, ein neues Jahr.

Ein grosser katholischer Gottesdienst, aufstehn, hinsetzen, aufstehn, hinsetzen. Wohlige Wärme breitete sich in seinem Bauch aus, obwohl kurz zuvor es noch eine unschöne Auseinandersetzung mit Judith gegeben hatte, er an ihr herumgenörgelt hatte, so dass er sie an ihre Mutter erinnerte, wie sie zerrte und zubbelte, unzufrieden war, soziale Anpassung forderte. Der Platz vor der Kathedrale gehörte heute den Rentnern, die sich zum ersten Mal im neuen Jahr sonnten, die Bänke waren überfüllt, die Kirchgänger hatten ihre schönsten, teuersten Pelzmäntel angezogen, die Sonne schien wieder, der Flohmarkt hatte heute geschlossen, eine Musikgruppe spielte traditionelle Lieder, viele Alten hatten in der Mitte ihrer Mäntel aufgebahrt und tanzten im Kreis die spanische Polka. Tanz in das neue Jahr, da lebte sie noch, die Arbeitertradition, die Tradition des sich Vermählens, sich Verbündens, eine Kette, einen Kreis bilden!

Gaudis Kirche hatte geschlossen, die warmen Sonnenstrahlen umfassten sie. An einer Kneipe hing ein Plakat. Neujahrsmenü, 2600 Pesetas. Im Vorbeilaufen hatte er einen schnellen Blick ins Innere geworfen, die Kneipe war voll, alle Tische besetzt. Essenszeit. Sein Blick hatte ein ältere, wohlbeleibte Dame gestreift, deren Gesichtszüge die Schminke von Jahrzehnten trug, den Tunch tausender von Liebhabern, doch die skurrile Würde einer Basilika im Nebel. Da Judith die Nähe des Volkes schätzte und wusste, da, wo die Touristen fern und das einfache Volk nah, die Küche gut und billig ist, so stellten sie sich am Tresen in Wartestellung und ein üppiges Mahl mit Champagner, weisser fetter Mehlschwitze und saftigem Fleisch füllte bald ihre Mägen. Er sass nicht bequem, das Volk sitzt nicht
bequem, er musste den Andern den Rücken zukehren, was ihm Mühe machte, er bevorzugte sonst den Rücken frei zu haben, alles zu übersehen, beobachten zu können war ihm lieber, als beobachtet zu werden. So ass er all die Sorgen und Nöte seiner Tischnachbarn mit und es lag ihm schwer im Magen, im Kopf und in der Galle. Mühsam schleppte er sich ins Hotelzimmer. Das neue Jahr hatte ihn noch nicht verdaut, es blähte und stöhnte, selten war das neue Jahr so streng gewesen, selten hatte es so schwer sich vorwärts getrieben.

Dritter und letzter Tag, Sonntag, viele Geschäfte haben wieder geöffnet, das einfache Volk beherrscht die Strasse, die Armut lebt gleich nebenan, manche Bettler stinken wie die Slums von Indien und es dauert viele, viele Stunden, bis der angehaftete Gestank aus ihren Kleidern verschwunden ist. Das wunderschöne Operncafé lasse sie heute rechts liegen, an Sylvester begehrten sie es noch und der Barkeeper hatte sich bewundernd über Judiths Schönheit geäussert und die Chefin nahm mit Hochachtung das ungewöhnliche Paar zur Kenntnis, umfasste sie liebevoll mit einem Lächeln, mit einem Kaffee.

Ohne die Möglichkeit zum Rückzug nervte sie die Stadt, gelangweilt spuckte sie sie aus, gründlich verdaut landeten sie in Basel und in seinem Inneren formte sich ein Lied und Tage später erkannte er seinen Text:

Silberner Dolch

Ich fahre durch den Wind und Regen, es wird
Abend,
ich sehne mich nach ihm, ich war zu lange
weg,
mein Herz pocht laut im Mondenschein
Ein dunkler Verdacht stieg mir blitzartig in den
Kopf,
in der Auffahrt sah ich eine andere Frau an
seiner Seite
ich streckte meine Hand aus und rief:

Hier ist ein silberner Dolch, ein Geschenk für
die Braut
silberner Dolch glänzt in der Nacht
glänzt in der Nacht.

Sie bot mir einen Kelch mit rotem, rotem
Wein,
sagte, „nimm es nicht so schwer“
ich schaute ihr ins Gesicht und verstand
„Was immer Du tust, Du weisst, dass er mir
gehört.“

Als ich ihr näherkam, wurde sie totenbleich.
Ich sagte „Du sollst verflucht sein mit allem
Was Du hast.“

Hier ist ein silberner Dolch, ein Geschenk für
die Braut
silberner Dolch glänzt in der Nacht
glänzt in der Nacht.“

(C. de Rouge / G. Mendes / S. Oldfield)
Deutsche Uebersetzung von Paul Bachtelor,
aus: Sally Oldfield, „feme“, 1987, CBS