DEB, 7/1979

Milva canta Brecht

Basler Konzert
Stadtkasino
09. Oktober 1995

Milva und Brecht. Eine grosse heftige Liebesbeziehung zwischen der schönen grossen Diva der italienischen Lieder und dem Burschen aus Augsburg, dem grossen, frechen Brecht.

Nächstes Jahr werden es 3o Jahre sein, die vergangen sind, seit jenem Tag, als Milva mit Giorgio Strehler in Strehlers Picolo-Theater in Milano ihr erste Brecht-Debut gab. Seitdem zog die Tochter aus Goro durch die Welt, sang und spielte auf den Brettern, die der Welt ihre Deutungen nahelegte, wurde gefeiert und geehrt – auch Lotte Lenya gab ihr den Segen – erreicht den Olymp (1966 und 1983) und begleitete Olympia (1984, Los Angeles).

Mit ihrer grandiosen Stimme erreicht sie – unverstärkt – den letzten Schnarcher in der letzten Reihe und ihre vulgäre Gosche formen die kritisch-lieblich-zynischen Worte des Manns mit der Zigarre über die Moral der Kleinbürger, über die Gewalt der Männer und die Verführbarkeit der Frauen – so sinnlich, als hätte Gott selbst die Hand angelegt, den Lehm des Lebens zu formen, zu kneten, ihm Gestalt zu geben.

In schwarzer Kurzhaarperücke und schwarzem Kleid scheint sie im ersten Teil des Programms direkt den verruchten Salons der Weimarer Republik entsprungen und Hunderte von Bildern Georg Grosz ziehen an uns vorbei und es fehlt nur, dass sie ihre Brust herausnimmt und dem Kleinbürgertum am europafreien Rheinknie die Milch des Existenzialismus nuckeln lässt.

Liegend liebend zeigt sie die Liebe der Frauen, die doch meistens nur benutzt wird – von den Mächtigen dieser Welt genauso wie von den Ohnmächtigen. Und sie wälzt sich am Boden und sie schreit und sie tanzt und dazu spielt kongenial der ein wenig kauzig wirkende Beppe Morschi (so stell ich mir Glen Gould in späteren Tagen vor), der immer schüchtern, fast peinlich berührt, lächelt wenn das Publikum auch ihn feiert, Milva – zur Recht – auf seinen Anteil am Erfolg des Abends verweist.

Das ist nicht die zärtlich-weiche Milva der Theodorakis-Lieder, wo die Schwingen der Freiheit wie ein leichter warmer Windhauch Deine Haut berührt, sondern es ist die Feder der Boa, die Dich kitzelt, an deren anderen Ende aber die Peitsche ist.

Und einmal hat eines dieser italienischen Lieder (der schönste Beweis einer deutsch-italienischen Freundschaft) die Intensität einer klirrend-klaren Anklage, so klar und scharf, dass der Ton bis nach Palermo reicht, in jenen Gerichtssaal, in dem ein alter Mann mit der Physiognomie einer Fledermaus, sich dreht und windet, zu sehr verstrickt ist er in diese Jahrzehnte giftiger Fäden und kurz blinkt es auf, ja, da gibt es einen Lohn für drei Jahrzehnte brechtsche Aufklärung auf italienisch, auch wenn die badische Lehrerin ihre übrige Karte für diesen Abend im Kollegenkreis nicht losbekommt: Brecht, äah, wer will das im Kreis der einst Aufgeklärten am Ende des zweiten christlichen Jahrtausends noch hören.

Nach den Liedern der ersten Hälfte (unter anderem der Moritat von Macki Messer, der Ballade von der sexuellen Hörigkeit, der Zuhälterballade und dem Salomon-Song) kommt in der zweiten Hälfte des Abends die Schöne Milva auf die Bühne, die verspielt ihre Haare durch die Luft wirft, sie schwingen wie die roten Blüte der Lilie, jetzt zeigt sie Brust ohne ihren Busen zu entblößen und beim Beifall-danken hebt sie schützend ihre Hand vor ihr Sonnengeflecht und erreicht somit einen Ausdruck bleibender Würde.

Ihre Stimme ist klar und rein, die Muskeln ihres Halses sind wie Stahlfedern zum reissen gespannt und ihre Augen strahlen, als wollten sie das ganze Dunkel dieser Welt erhellen.

Und doch sind sie da, die Schatten der Vergangenheit, die Ungeister der Gegenwart, dumpfe Trommeln aus der Zukunft. Mal ist da ein Fehler im Ansatz eines Satzes, den sie lächelnd, verzeiht mir, meine Liebsten, wegsteckt, mal es das wiederholte Blitzen einer Kamera, geldgeiles Gehämmere der Journaille, die sie aus der Fassung bringt, das Lied abbrechen lässt, neu anfängt. Das Publikum danke es ihr, diesmal stehen alle auf ihrer Seite und die menschenfressende Maschine muss Einhalt gewähren. Mal sind es die Unsicherheiten, wo ist der richtige Platz zum Auftritt, mal ist es das Knacken der Bühne und ihr Erschrecken signalisiert ihre Angst, ihr könnte unter ihren Füssen die Welt einstürzen, sie mit in den Abgrund reissen, verschlingen wie das grosse Ungeheuer unsere Träume frisst. Und obwohl sie den Baslern für ihre Zuwendung dankt, für diesen biederen, schwülstigen Saal des Stadtcasinos freundliche Worte findet, fehlen ihr doch die Tausende von begeisterten Zuschauerinnen, jubelnde, krächzende, schreiende, stöhnende. Es ist ein langer, beschwerlicher Abstieg vom Olymp und wie im richtigen Leben ist dieser Weg der schwerste.

Mit Erschrecken sieht sie sich altern, sechsundfünfzig ist heutzutage in den Metropolen des Westens für eine schöne, emanzipierte Frau kein Alter des Schreckens mehr und doch: ist die freche Janis nicht schon fünfundzwanzig Jahr tot, wird der cosmic blues nicht heutzutage anderswo gesungen? Ihre blonde, vollbusige und volllippige junge Kollegin – „in bed with“ – sie füllt die Arenen wie die in Barcelona, sie verkörpert die Jugendlichkeit, auch die sexuelle Befreiung einer Generation, die in ihren, Milvas Konzerten, kaum mehr vertreten ist. Und wiegt sie ihre wunderschönen roten Haare wie ein Traum über die Bühne, so muss sie doch ganz auf die Dramaturgie achten, wenn das Licht ausgeht – noch schnell ein Haarwellen, dann ein noch schnellerer Schritt hinter den Vorhang. Das Publikum soll die Illusion der Leichtigkeit spüren, in einer Zeit, wo zwei Flugstunden von Sarajewo entfernt in der Stadt der Gentechniker das Leben auch schon mal leichter war. Und so verkörpert sie in ihrer Aufrichtigkeit, in ihrer Grösse als Frau auch eine Epoche, die von Aids noch nichts wusste.

Und mit Schrecken sieht sie das Schicksal ihrer Vorfahren, wie sie im hohen Alter durch die Kneipen ziehn, erst Paris, Athen, dann Basel, Zürich, zuletzt Klein-Hüningen, Gupf. Dann fehlen nur noch ein paar Gläser Alkohol – das einzige deutsche Lied war eine kleine und sympathische Lobpreisung eben dieses Halozinogens -, eine zerbrochene Liebe, der Hass des Medienrummels.

Oder wie Greta als Schatten ihrer Selbst den Mythos wahren, wie ihre Kollegin Catherine in „Begierde“ die jungen Männer fressen oder
aussetzen, wie Hilde und dann, in zwanzig Jahren, ein modisches revival: Altstar meets Jungunternehmer?

Wie lässt sich im Showcircus in Würde als Frau alt werden? Billy und Edith haben es uns nicht gezeigt. Kann Milva es? Ich wünsche es ihr. Ich wünsche es mir.

In Liebe
Dieter Baumert