DEB, 7/1979

Green Tuesday

Von Dieter Emil Baumert
30. März 1993

Der Morgen danach war ruhig verlaufen, er war länger liegengeblieben, hatte geschlafen, von skurrilen – unsinnigen? – Träumen unterbrochen, immer wieder kurz aufgewacht und den Tag wach begonnen mit dem liebevollen Streicheln seines Gliedes, des Schweifs des Mannes, und er erfreute sich daran, fühlte die Adern unter seiner Haut, wie er sich warm, pulsierend unter seiner Hand anfühlte, die seine Hand streifte die Haut des Schweifs, fuhr, erst langsam, dann immer schneller an ihm vorbei, auf, ab, auf ab, es erregte ihn, auch als er dies schrieb, sodass er sich an der Erinnerung an die Erregung erneut erregte, er zog den Stuhl so hin, dass der Blick vom Hochhaus ihn nicht treffen konnte, er öffnete die Hose, holte seinen steifen Schwanz heraus und rieb, sinnend vor Lust an ihm, bis er erneut Samen speite, die wilde Sinnlichkeit im Orgasmus sich erbrach, weiße glitschige Masse lief seine Finger hinab, genüsslich leckte er den Nektar eigener Gier in sich auf.

Er hatte geduscht, sich angekleidet, warme Brötchen aus dem Backofen geholt, heißen Tee zubereitet, Butter und Pflaumenmarmelade dazu. Die Zeitung vom Vortag berichtete vom russischen Präsidenten, wie er, mit vom Alkoholsuff gezeichnetem Gesicht, sich dem Kongress gestellt hatte, wie der Misstrauensantrag gegen ihn scheiterte und wie er doch mit seinen Versprechen, die Macht der Nomenklatura zu erhalten, sich erneut diskreditiert hatte, nach seinem letzten Versuch sich uneingeschränkte Freiheiten der Macht zu erteilen, Präsidialherrschaft genannt.

Das Bild des Präsidenten auf dem Panzer tauchte auf, August 1991, der gescheiterte Putsch. Ein Jahr zuvor hatte er, damals noch Bürgermeister von Moskau, die uneingeschränkte Macht Gorbatschows kritisiert, dessen Willen zur Macht, dessen Verstricktsein in die Gesetze der Nomenklatura, der stalinistischen Machtclique und ihren eigenen Gesetzen. Genau erinnerte er sich an eine Beispiel aus jenem Artikel, den viele Zeitungen in aller Welt nachgedruckt hatten, auch „The Australien“, in der er damals den Artikel las. Wenn die Herren des Kremls durch die Stadt fuhren, dann wurden zentral alle Ampeln geschaltet, sodass die Strassen auf der der Herrscher fuhr, völlig leer waren, frei für Macht. So streng, so präzise genau, wie jene Kritik am Reformer war, so streng und präzise genau schien Jelzin jetzt auf der gleichen Strasse zu fahren, auch er wollte sie wieder zentral stellen, die Ampeln wie die Radiostationen, die Minister, wie die Köchinnen. Die Suppe brodelte, der giftige Trank drohte überzuschwappen, das Land erneut zu verkleistern, die Hirne und die Herzen der Untertanen.

Die Zeit hatte sich schützend über ihn gelegt, wie ein dicker, weicher, warmer Mantel, wie ein Kogon weicher Federn, der alle Geräusche der Strasse, des Marktlebens zu Füssen und der Lärm der Baustelle von nebenan abhielt, von ihm, fast unmerklich, traumhaft auf Distanz hielt, so wie der Moment des Fliegens im Fallschirm, wo – zeitlupengleich – die Welt langsam auf ihn zukam, er sich schwebend zwischen Himmel und Erde bewegte. Es war keine Erfahrung, die er willentlich herbeiführen konnte, es musste die Chemie stimmen, die Zutaten wie beim Brotbacken stimmen, die Stimmung des Teigknetenden war genauso wichtig, wie die Konstellation der Sterne, das Rotieren des Mondes. Wenn alles stimmte und er wusste nicht aus was sich dieses Alles zusammensetzte, dann erlaubte ihm das Universum sonderbare Momente voller Eindringlichkeit, Besonderheit. Er erinnerte sich an einen Fall, einen Absturz als zwanzigjähriger. Er war im Säckinger Jugendzentrum auf einer Blechtonne gesessen, hatte sich unvorsichtig bewegt und war vom Rand der Tonne auf den Fußboden gefallen. Es war eine Geschichte, die in Sekunden, vielleicht nur den Bruchteil einer Sekunde, passiert war. Und doch hatte er, noch während er fiel, den eigenen Fall gesehen, wie in Zeitlupe, in einer Intensität minutenlanger Beobachtung. Da hatte er gesehen, dass Zeit nicht gleichförmig war, dass Erlebnisse, Zeit,
Erfahrung sich dehnen und strecken konnte, dass das menschliche Gehirn Zeitabläufe, Erlebnisse in der Zeit zerlegen konnte, in Einzelbilder zerteilen konnte, wie im Film die sogenannte Zeitlupe dies technisch bewerkstelligte.

Es hatte all die Tage des Wochenendes geschneit. Am Samstag war in Europa die Zeit wieder umgestellt – so nannte man das – worden, jetzt hieß es Sommerzeit, der Tag begann eine Stunde früher. Die Herren des Himmels, der Sterne und des Schnees hatte diese nicht davon abgehalten das Land mit Schnee zu bedecken, immer wieder
unterbrochen von Sonnenminuten.

Sascha, der kleine, fünf Jahre war er alt geworden, ein Tag vor ihrer Ankunft, erkältete sich, mal aufs mal wurde es schlimmer, aber immer wieder wollte er im Freien spielen, mitgehen, Brot und Milch kaufen. Dann lag und saß er hustend im Zimmer, heißes Zwiebelwasser trinkend, gewiegt in den Armen der liebenden Mutter.

Drei Jahre war es her, dass sie im australischen Toowoomba den Geburtstag des kleinen Kerls gefeiert hatten; Marry hatte eine Kuchen gebacken und er hatte das fotografiert, später den Ausschnitt, Sascha mit Kuchen, als Poster Petra geschenkt.

Das Bild war verschwunden, ein Freund war vorbeigekommen, Jochen, der Maler, hatte ihn zwei Stunden in ein Gespräch verwickelt, jetzt schrieen unter ihm das junge Paar, Konfliktbeziehung nannten die Psychologen wohl so etwas. Sie schrieen so grell, wie die Heavy Metal Musik, die sie sonst hörten. Der Schreibfluss war unterbrochen, der Himmel wieder grau. Der geistige Moment war verstrichen, die Worte flossen nicht mehr, wie der Strahl aus der Quelle am Moos, jetzt mussten die Schubladen geöffnet werden, Fach für Fach, wo war eine Erinnerung, die bereit für die Feder war. Der Kopf drückte ihn noch von dem Besuch des Gastes, all seine Bürde hatte er bei ihm abgeladen, glücklich ging er von dannen, als er das Bild „Meine Eltern“ im Gang ihrer Wohnung hängen sah.

Er dachte an Petra, abends, wenn Sascha im Bett war, hatte sie Zeit, in Ruhe am Tisch zu sitzen, von sich und ihrem Leben zu erzählen. Es war schön, den Frauen im Dialog zuzusehen, alte Vertrautheit zu spüren, neues zu entdecken. Petras Gesicht veränderte sich immer wieder, sie reihte in ihrem Ausdruck Facette an Facette und ihr Gesicht wurde zum großen Buch der Geschichten, wo er lesen konnte und lesen konnte, ohne dass ihm langweilig wurde. Immer wieder entdeckte er einen neuen Ausdruck in ihrem Gesicht und seine Bewunderung lies sie wachsen, aus sich herausgehen, sodass sie erblühte in ihrer Schönheit, vergessend Konvention und Erziehung, Sorgen und Nöte. Allein der Gedanke daran erregte ihn, sein Glied schwoll an und er folgte wieder den Rufen seines Körpers, dem Schwalles des Blutes, der Geilheit des Bockes. Es benötigte nicht viel und er war befriedigt, konnte weiterschreiben. Da aber stockte es, hatte er doch zuviel Kraft hergegeben?, ein Nebel legte sich aufs Gehirn, die Uhr würde gleich sechs schlagen, die Geliebte jeden Augenblick hereinkommen, die Welt der Arbeit hereinbringen, Ärger und Sorgen, des Lebens Anhaftungen. Der Intimität mit Petra und Daggi musste ein andermal nachgegangen werden, nachgefühlt,
nachgeschrieben.