Unser Jahrhundert – unsere Krankheiten – unser Leben

Dieter Emil Baumert führt uns durch ein Jahrhundert Familiengeschichte. Baumert schreibt auf im Dezember 2020 auf seiner Facebook-Seite: „Einige Geburtsjahreszahlen fehlen. Und es fehlen auch einige Namen aus den Familien. Das kann ich in einer späteren Ausgabe korrigieren. Was mir aber fehlt, das sind die Erzählung der Altvorderen. Der Eltern meiner Eltern. Werde ich sie je finden? Wie sang Udo LIndenberg vor vielen Jahren ‚Die Kinder Deiner Kinder, die kennen nicht mal mehr Deinen Namen.'“

So bleibt die Geschichte der Familien Baumert aus Kehl und Säckingen und die der Familien Rappold aus Bad Wimpfen unvollständig. Wer wird sie vollständig erzählen? Tauchen eines Tages vielleicht Aufzeichnungen auf? Wo sind all die Erzählungen der Ahnen und der Urahnen?

Hier begegnen wir einem Problem aller mündlichen Geschichtserzählungen. Alle Kulturen, die ihre Sagen mündlich weitergeben, haben dieses Problem, ob in Afrika oder Australien. Wie haben es die Aborigenes gemacht, wie die Indianer, wie die Bantus? Wie gingen diese Kulturen mit den dunklen Seiten ihrer Geschichte um? Haben sie auch berichtet über die Morde, all die Schandtaten ihrer Vorfahren? Baumert kann sich auf wenige schriftliche Zeugnisse oder Fotodokumente beziehen. Es gibt einen Erzählungsband seines Onkels Helmut, der über die Erschießung des italienischen Bauern durch die Soldaten der Wehrmacht, zu der der Onkel gehörte, in Apulien berichtet. Das kann später in einem Dokumentarteil angefügt werden.

Angefügt werden kann auch der Mitgliederausweis der NSDAP seines Vaters. Aber es gibt keine Erzählung seines Vaters aus seinen Jahren als Soldat der nazistischen Armee in Russland und dem Weg dorthin. Der Freiburger Psychologe …. hat vor Jahren berichtet, dass die Menschen mit Achtzig beginnen mit ihrer Lebensbeichte. Dann, in diesem hohen Alter, wollen sie in ihrem Leben Reine machen, dann kommt auch dem Schwaben das Prinzip der schwäbischen Kehrwoche in die Psyche an die Oberfläche.

Dann sind sie bereit für ihre Lebensbeichte. Dieter Baumerts Vater starb mit dreiundsechzig Jahren. Hat er also vor dem Abschluss seiner Lebenserzählung sein Wissen mit in den Tod genommen? Und: wo bleiben die Stimmen der Opfer? Kann die Generation der Kinder der Täter sich nicht in die Opfer seiner Vorfahren eindenken? Sein Versuch, den Mord an einem jüdischen Jungen im Konzentrationslager zu schildern – ist das nicht purer Kitsch?

Vielleicht. Vielleicht hilft es auch, so wie das Kitschepos von Steven Spielberg den Deutschen half, sich an die dunkle Zeit ihrer Geschichte zu erinnern. Wann werden die Deutschen diese Zeit nicht mehr Holocaust nennen, wie jenes Filmepos hieß, sondern so, wie die Juden Europas diesen Völkermord nennen: Shoa?

 

Ernst Emil, Kehl am Rhein
Jahrgang 1906

Wie würde mein Vater sich freuen, wenn er sehen würde, was aus dem Dorf Kehl am Rhein heute geworden ist. In Partnerschaft mit der Stadt des Europaparlaments Straßburg hat sich Kehl zu einer modernen Stadt gewandelt, wohlhabend und glücklich. Welch ein Unterschied zu meiner Jugendzeit. Wie einfach die Verhältnisse waren. Als ich in den Fünfziger Jahren mit meinem Sohn Dieter mal meine Verwandten besuchte, hatten die noch in ihrem kleinen Haus einen Fussboden aus gestampfter Erde. Mein Vater als Bauunternehmer und ich als Bauingenieur und mein Sohn Gert Robert als Architekt haben auch dazu beigetragen, dass das Land erblühte. Erblühte nach all der Vernichtung des Krieges, den Bombardements der Allierten.

Doch was hatten wir alles angerichtet. Wir zogen in den Osten mit unserer Armee. In den Sechziger Jahren fragte mich immer wieder mein ältester Sohn Gert was wir damals gemacht hätten. Doch ich konnte es ihm nicht sagen. Schmerzen waren geblieben und die Erinnerung an all das Schreckliche. Kleine Photos in unserem Photo-Karton im Wohnzimmer zeigten die Wirklichkeit: An den Laternen hingen die Leichen der von uns getöteten Menschen in der Sowjetunion. Wie ein Flächenbrand waren wir über die Länder des Ostens gekommen und wir träumten in unserer Verblendetheit von einem großen Reich. Doch die Sowjetarmee beendete diesen Wahn. In Stalingradf wurden wir vernichtend geschlagen.

Nicht viel mehr als fünftausend deutsche Soldaten schafften es, den Kessel zu verlassen und zu überleben. Ich kam in Kriegsgefangenschaft, wurde dort gut behandelt und schaffte es wieder nach Deutschland zu kommen und konnte im demokratischen Deutschland wieder arbeiten und zu Wohlstand zu kommen. Die Arbeit erfüllte mich und ich war stolz mit meiner Familie, meiner geliebten Frau und unseren drei Kindern. 1969 erlitt ich einen Magendurchbruch und verstarb in der gleichen Nacht noch im Säckinger Krankenhaus. Damals gab es noch keine Medikamente dagegen, heutzutage müsste ich daran nicht mehr sterben.

Frieda Luise, genannte Friedel, Bad Wimpfen
Jahrgang 1912

Was hatte ich für eine schöne Jugend in der kleinen Stadt am Neckar. Welch wunderbare Freundschaften mit meinen Freundinnen. Wir schwammen in dem sauberen Fluss, wir ruderten im Dreier, wanderten durch die Felder. Am 20. April 1912 kam ich zur Welt und etliche Jahre feierten wir unseren Geburtstag wie jeden anderen. Doch die Welt änderte sich und sie schwemmte die neue politische Gruppe Nationalsozialisten nach oben und bald übernahmen sie den ganzen Staat. Und bald wurde ich bewundert dafür, dass ich am gleichen Tag wie „der Führer“ Geburtstag hatte und so verband sich mein Leben mit dem Mann mit seiner heftigen, lauten Stimme, einer Stimme, die mir eher nicht so gefiel.

Auch sein Brüllen war mir fremd. Doch in den Liedern meiner Freundinnen vergaßen wir das. Alles veränderte sich, die Männer trugen jetzt immer öfters Uniformen und das gefiel mir. So lernte ich meinen Mann Ernst kennen und 1937 im Oktober heirateten wir. Viele Teilnehmer des Hochzeitsfestes trugen mit stolz ihre Militäruniformen und wir waren glücklich. Ein Jahr später kam meine Tochter Traudel zur Welt. Wir waren glücklich, aber der Vater konnte nicht lange seine kleine geliebte Tochter auf dem Arm wiegen. Denn im nächsten Herbst begannen wir Deutschen den Krieg gegen Polen. Uns wurde gesagt, Polen hätte den Krieg begonnen und der Führer startete mit den Worten „Seit sieben Uhr wird zurückgeschossen“.

Ernst musste in den Krieg und er war lange weg im Osten. Als er nach dem Krieg und der Kriegsgefangenschaft in Russland zurückkam, war er, wie alle Männer, ein anderer geworden und es war nicht leicht zusammen zu leben. Es brauchte ein halbes Jahrhundert, bis ich verstand, dass mein Leben im schönen Bad Wimpfen mit meinen Metzger-Eltern umgeben war von Gewalt. Ein halbes Jahrhundert brauchte ich, um zu verstehen, warum meine jüdische Freundin eines Tages plötzlich nicht mehr da war und wohin sie gekommen war.

Die Züge der deutschen Bahn rollten nach Auschwitz und sie endete, wie sechs Millionen anderer jüdischer Mitbürger im Gas der Verbrennungsöfen.ochH HH So viel habe ich in meinen neun Jahrzehnten erlebt und ich musste nicht nur den Tod meines Mannes erleben, sondern auch den meiner Tochter. Bis zum Ende meines Lebens lebte ich in meiner Wohnung, zwei Tage lang ging es zum Sterben ins städtische Krankenhaus.

Robert Wilhelm, Bad Wimpfen
Jahrgang 1914

Ich war der Lieblingsbruder meiner Schwester Frieda Luise, Friedel genannt. Ein großer stolzer und, verzeih, auch ein schöner Mann. Doch wir waren in einer dunklen Zeit geboren und wir Kleinbürger hatten nicht gelernt, gegen den Wind der Zeit zu denken und zu handeln. Hatten wir von Tucholsky gehört, hatten wir Ossietzky gelesen? Ich glaube nicht. Auch die kritischen Pfarrer der bekennenden Kirche waren uns kein Begriff und so ließen wir uns begeistern vom nationalen Aufschwung Deutschlands. Und bald zogen wir in den Krieg. So wie unsere Vorväter in den Krieg zogen, so zogen wir bald in den Krieg. Keine Mutter weit und breit, die uns im Zimmer einschloss und uns nicht in den Krieg ziehen ließ.

Wir hätten fliehen können, wie einst die verfolgten Christen aus dem Elsass nach Amerika emigrierten. Doch wir hatten unsere Metzgerei, wir waren erfolgreich und Teil der Gemeinschaft. Alle jubelten. Die Fahnen, die Uniformen, die Lieder, die Gemeinschaft. So wurden wir hineingezogen und plötzlich kämpften wir in den Gräben unserer Nachbarländer. Der Liedermacher Wolf Biermann sang ein halbes Jahrhundert später: „Soldat, Soldat, in grauer Norm, Soldat, Soldat in Uniform, Soldaten sind sich alle gleich, lebendig und als Leich.“ Ich starb in Russland und heutzutage wird meiner gedacht in einem der deutschen Soldatenfriedhöfe.

Edeltraud Elfriede, genannt Traudel, Säckingen
Jahrgang 1938

Welch schöne Zeit in Wimpfen, in Säckingen. Freudige Tage mit meiner Mutter, wenig Zeit mit meinem Vater, der um meinen zweiten Geburtstag in den Krieg ziehen musste. In Wimpfen konnten wir die Tage des Krieges gut leben und auch danach waren die Tage in Säckingen gut für uns. 1948 kam mein Bruder Gert Robert zur Welt, vier Jahre später mein kleiner Bruder Dieter Emil. Ich half Mutter so gut es ging, das war meine Aufgabe als große Schwester. So lernte ich bei Mama das kochen und so wurde ich bald auch Köchin, später sogar Diätköchin.

In einer Zeit, in der es noch nicht normal war, dass Frauen arbeiten. Aber ich habe immer gearbeitet, im Haushalt von wohlhabenden Bürgern oder in Küchen der Wohlfahrtspflege, wie zum Beispiel dem …in Säckingen oder in den Küchen der Kinderdörfer. Ich lernte meinen Schatz, Roland kennen und lebte mit ihm im fernen Weflinghofen glückliche Tage. Bis zu dem Tag, als ich bei einer Operation am Ohr ins Koma fiel und nach einer Woche verstarb.

Ein Freund von Dieter, der Arzt war, erklärte ihm, dass man mir ein billiges Narkosemedikament gegeben hatte, welches ich nicht vertragen hatte. Ich hätte eine Unverträglichkeit angeben müssen, vergaß es aber. Das teure Medikament hätte mir wahrscheinlich nicht geschadet. Aber es ist verschüttete Milch. Wir hätten auch damals zurückfahren können, als das Auto seinen Geist aufgab. Ich sage zu Roland: Lass uns nach Hause fahren, das ist ein schlechtes Zeichen. Doch wir hörten nicht auf meinen siebten Sinn. So wurde ich aus dem Leben gerissen, mit vierundfünfzig Jahren.

Dieter Emil, Säckingen
Jahrgang 1952

Mein erstes wichtiges politisches Ereignis war die Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Mit meiner Mutter sah ich die Bilder im Fernsehen. Ich sammelte die Berichte in den Zeitschriften, machte mir meinen Kennedy-Ordner. Das war mein Politik-Einstieg als Elfjähriger. Vorher gab es die Kerzen an Weihnachten vor den Fenstern als Gruß an die Brüder und Schwestern im Osten. Als Siebzehnjähriger feuerte mich dann das Elend in Vietnam an und ich organisierte in Säckingen die erste Vietnam-Demonstration – mit einem Vietnam-Text von Peter Weiss – und zusammen mit meinen Musiker-Freunden von Out of Focus unser Vietnam Teach in.

Die Bilder der schrecklichen Militäreinsätze der US-Soldaten mit dem Einsatz des Entlaubungsmittels Agent Orange und der verletzten und gestorbenen Menschen empörten mich. Erst viele Jahre später sollte ich erfahren, dass mein Idol Kennedy diesem Einsatz zugestimmt hatte. Und auch Jahre später, als wir in Rheinfelden gegen den Dioxin-Einsatz demonstrierten, nach dem Seveso-Unfall in Norditalien, wurde klar, dass auch wir Deutschen daran beteiligt waren.

Der spätere Bundespräsident Weizsäcker war im Aufsichtsrat der deutschen Firma, der das Agent Orange herstellte. Mit meiner geliebten Frau Dagmar – Daggi – exzerpierten wir geheime Unterlagen und publizierten sie in unserer Zeitschrift ZITTIG. Dem Kampf gegen den Militäreinsatz in Vietnam folgten Aktionen gegen die Militärdiktaturen in Griechenland, Spanien, Portugal und Chile. Im Rahmen der Friedensbewegung kämpften wir gegen den Nato-Nachrüstungsbeschluss. In meiner Heimatstadt Säckingen protestierte ich gegen den Bundestagsabgeordneten Kurt Georg Kiesinger wegen seiner Vergangenheit als Nazi.

Die Frauen, die auf der Kundgebung waren, schlugen mir mein Styropor-Hakenkreuz, welches ich mir zuhause gebastelt hatte, aus der Hand. Waren sie gegen das Zeigen des Hakenkreuzes oder dagegen, dass ich mit meiner Aktion auf die dunkle Vergangenheit des Kurt Georg Kiesingers hinwies?

Bei Beate Klarsfeld fand ich an ihrem VW-Bus Schutz. Aber wirklich in Gefahr war ich nicht und auch der großen Antifaschistin Beate Klarsfeld drohte keine Gefahr. Sie war gekommen um gegen den Mann zu protestieren, den sie öffentlichkeitswirksam geohrfeigt hatte. Neben Foto Forstmeyer hatte sie ihren Bus geparkt.

Was ich nie von meinem Vater erfahren hatte, was er im „dritten Reich“ gemacht hatte, das erkundigten wir dann in Lörrach im Rahmen unserer Ausstellung zur Reichspogromnacht 1938. Darin durften wir – sozusagen als Weltpremiere – Photos zeigen, die die Deportation der Lörracher Juden am Markplatz in Lörrach zeigten.

Helmut, Bad Wimpfen
Jahrgang

Bin so lange so gesund geblieben. Gottes Segen dafür. Nur die letzten Wochen im Rollstuhl bei voller geistiger Kraft. Doch hatte ich die wirklich mein Leben lang? Als wir Adolf Nazi zujubelten und dann in den Krieg zogen. Wie ein Wirbelsturm kamen wir über die Völker und hinterließen Zerstörung, Tod und Unglück. Bis nach Süditalien sind wir gekommen, bis ins Land des Staufers Federico Secondo. Dann kamen die Allierten und wir mussten fliehen, heim ins Reich. Das Land voller uns feindlicher Soldaten, ein Land voller Partisanen und dazwischen wir, ein kleiner versprengter Haufen deutscher Wehrmachtsangehöriger.

Wir dringen in ein Bauernhaus ein und fordern vom Bauer Essen und Unterkunft. Er gewährt es uns – was hätte er sonst machen sollen. Spätabends aber begeht er einen verhängnisvollen Fehler. Hatte er draußen Stimmen gehört oder wusste er, dass in der Nähe der Nacht seine Freunde, die Partisanen waren? In der Dunkelheit schlich er sich an den Schrank, öffnete die Türe und nahm sein dort verstecktes Gewehr. Wollte er damit fliehen oder wollte er uns bedrohen? Welch Irrsinn, wir deutschen Soldaten hatten ja alle noch unsere Waffen. Wir sahen es und einer von uns erschoss ihn. Einer jener Tode, die so unnötig sind, würde meine ältere Schwester Friedel sagen, wie ein Kropf.

Roland Alwyn, genannt Roland. Weflinghofen
Jahrgang 19

Was hatten wir eine schöne Zeit. Wir – mein Traudele und ich – hatten uns gefunden und wir haben glücklich zusammen gelebt. Sie hat sich viel um ihre Mutter gekümmert, ist oft am Wochenende zu ihr gefahren und hat sie bekocht und sich um sie gekümmert. Friedel hat mich mit offenen Armen aufgenommen, mich, der ich aus der DDR kam und meine Familie hinter dem Eisernen Vorhang gelassen hatte. Warum musste sie sterben? Ich war danach so allein. Aber immerhin kam die Familie im Osten wieder mit der Maueröffnung zusammen.

Matz, Bad Wimpfen
Jahrgang 19

Welch glückliche Tage in Bad Wimpfen. Ein schönes Haus, eine gute Stelle als Lehrer in der Schule. Eine schöne Dorfgemeinschaft, die mich aufgenommen hatte, als wir als Vertriebene nach dem verlorenen Krieg hier im Schwäbischen angekommen sind. Wir haben uns dafür bedankt und haben ein Stadtpartnerschaft mit Ödinburg initiert und so Brücken gebaut zwischen unserer alten Heimat und unserer neuen.

Kein Revanchismus, keine Träume von Rückeroberung alter ehemaliger Wohnorte, sondern Leben in Freiheit und Gemeinschaft in Ost und West. Die Welt steht uns offen und ich begleitete sie am Klavier. Für vieles war ich offen. Entgangen sind mir allerdings die judenfeindlichen Skulpturen an der Wimpfener Kirche. Die Judensau. Habe ich sie übersehen oder wollte ich die neue Gemeinschaft, die mich so herzlich aufgenommen hatte, nicht mit kritisches Fragen verärgern?

Edith, Bad Wimpfen
Jahrgang 19..

Was war das für eine schöne Zeit. Ich als große blonde Frau an der Seite meines, Mannes Helmut in seiner tollen Uniform. Was störte es mich da, dass er ein Womennicer war, wie es mal meine Tochter erwähnte, als sie gerade aus dem Kalifornien der Hippies zurückgekommen war. Ja, wahrscheinlich bin ich den Nazis zu Nahe gekommen. Aber da waren schon auch fesche Kerls dabei. Und es ging uns ja auch gut. Ich weiß, manchmal sollte ich mich erinnern.

Manchmal bricht es aber halt so durch. Ich erinnere mich an einen schrägen Blick meines Neffen Dieter, als ich vor einem viertel Jahrhundert mal durch Wimpfen gegangen war und unserem Hund gesagt hatte „ beiß ihn ruhig – er ist ein Türk“. Mein Gott, wer macht nicht mal einen blöden Spruch. Du nicht Dieter?

Arkadi, Wehr/Baden
Jahrgang 19

War ich blind? War ich unkonzentriert? Habe ich geschlafen und bin erst spät aufgewacht? Wie oft habe ich mich das gefragt. Hinter einem Vorhang grauer Wolken taucht mein Leben in der Sowjetunion auf und ich reibe mir irritiert die Augen. Wie anders war mein Leben die ersten Jahrzehnte im anderen Staat. Ja, es war einfach. Ja, es war schwierig. Aber wir kannten nichts anderes. Jeder versuchte sich so gut wie möglich einzurichten und wir schauten, dass wir im grauen Alltag auch unsere Farben fanden, die Farben der Blätter des Herbstes, die bunten Farben des Frühlings, das satte gelb des Sommers.

Gutes einfaches Essen und auch immer mal ein guter Schnaps. Ich war nie ein Kämpfer gewesen. Ich hatte genug mit dem Kampf meiner Familie zu tun, mit dem klar kommen mit all den Widrigkeiten des Lebens unter der Gewalt der roten Zaren. Im Gulag wollte ich nicht enden – wem hätte das genutzt? Die Sprachgewalt eines Alexander Issajewitsch Solschenizyn hatte ich nicht und auch nicht die religiöse Suche nach der Wahrheit. Doch es fehlte etwas und eines Tages gab es die Möglichkeit in den Westen zu gehen. Welch ein Abschied. Welch weite Reise. Welch Ankommen.

Und welcher Schock über das Leben im Westen – in Deutschland. Ich fror und schwitzte gleichzeitig, es schüttelte mich und ich musste weinen. All mein Leben die Jahre im Bauernstaat – so nutzlos. Verlorene Zeit. Verlorene Tränen. Alles nutzlos. Wie irrsinnig: im Land des Volkes, welch unserem russischen Volk so großes Leid zugefügt hatte, Millionen und Abermillionen meiner Landsleute starben im Kampf mit dem nationalsozialistischen Klassenfeind, dem Schlächter von Berlin. Und nun, Jahrzehnte danach, lebten die Besiegten von Damals glücklich und frei im Wohlstand und in Gesundheit.

Und mein großes russisches Volk ging noch immer gebückt und geknechtet, wie einst unter Väterchen Stalin. Gut, die Repression war weniger geworden, der Stalinismus gehörte zur Geschichte. Aber auch die Herrscher nach dem Georgier waren Herrscher und brachten uns nicht Freiheit, Wahrheit, Wohlstand. Und nun ich im Westen: eine neue Liebe, eine wunderbare Frau, Aufnahme in einer großen freundlichen Familie und endlich wieder arbeiten können, so wie ich es wollte.

Nach schönen Tagen in Hameln freie und gute Tage in Bad Säckingen und später in Wehr. Bei der Tante meiner Frau Marie-Luise fanden wir in ihrem Haus eine schöne Wohnung und bald durfte ich auch das Büro nutzen, welches einst der Mann von Tante Friedel nutzte. Hier hatte der erfolgreiche Bauingenieur seine Bauzeichnungen, seine statischen Berechnungen durchgeführt. Wenn ich durch die Straßen von Bad Säckingen ging, waren überall die Spuren dieses großen Mannes. Das Marienhaus, das katholische Vereinshaus oder auch das Schwimmbad. Wie war ich dankbar in dessen Räumen meine Arbeit zu tun.

Die Kinder wuchsen gut und glücklich auf und von Marie-Luises Familie wurde ich herzlich aufgenommen. Nur manchmal, wenn ich im Kreis der Bad Wimpfner saß, Onkel Matz spielte am Klavier und wir sangen mit, da hatte ich eine Vision. Die Deutschen, sie sind ein kulturelles Volk. Abends sitzen sie zusammen und genießen die Werke von Bach, Beethoven und all der Größen der deutschen Musik. Dazu gibt es herrliche Weine und gutes Essen.

Doch wir sind nicht in Bad Wimpfen, sondern in Auschwitz. Alles ist wie hier, die Kerzen leuchten hell, der Holzofen wärmt den Raum, die Kinder lachen und ab und an wird auch das Tanzbein geschwungen. Und dann ist es morgen. Ein Junge, abgemagert und in Häftlingsuniform räumt den Abendessenstisch ab. All das Essen soll er wegräumen, vieles wegschmeißen. Er, der seit Tagen kaum etwas gegessen hat, steckt sich eine Scheibe Brot und einen Hühnerknochen ein. Doch jemand sieht es, verrät den Jungen an den Hausherrn.

Der kommt, schaut mit grimmigen Blick den Jungen an, sagt ihm „und wir haben Dir vertraut, was bist Du für ein undankbarer Jude.“ Und der Hausherr langt in seine Tasche, zieht eine Pistole raus und erschießt den Jungen. Aus dem Lärm der Pistole wird ein Löffel, der Mathias, dem Bruder meiner Frau, runtergefallen ist und wieder sind wir alle friedlich zusammen. Wer meiner neuen Familie war an dem Genozid beteiligt, wer zog nach Osten.

Von dem Ehemann von Tante Friedel weiß ich es. Er kam mit der nationalsozialistischen Wehrmacht bis nach Stalingrat. Er hat dafür gebüßt und kam in russische Kriegsgefangenschaft. Der andere Onkel meiner Frau war in Italien. Was hatte Matz damals gemacht? Ich wage nicht zu fragen. Ein solch freundlicher weltoffener Mann. Wir vergessen das besser. Zu dankbar bin ich für das schöne Leben. Später bauen wir noch ein tolles Haus in Wehr, meine Frau arbeitet weiter als Lehrerin im Bad Säckinger Gymnasium.

Es geht uns gut. Doch plötzlich kommen dunkle Wolken und ich erkranke. Komisch – Väterchen Frost hat mich nicht besiegt, ich habe überlebt und gut und glücklich gelebt und nun frisst mich Mütterchen Krebs auf. Noch hat die medizinische Wissenschaft nichts gefunden, um den Krebs zu besiegen. Do swi danja.

Werner, Bremerhaven
Jahrgang 19

Muss alles immer so enden: im Krankenhaus mit Krankheiten.? Die Medizin entwickelt sich immer weiter. Der normale Mann, der 1900 geboren wurde, hatte eine Lebenserwartung von fünfzig Jahren. Heute im neuen Jahrtausend werden die Menschen in den reichen Nationen achtzig Jahre und mehr, viele sogar einhundert Jahre alt. Ich habe das nicht mehr erlebt. Aber ich habe gelebt. Habe, auch unter den Nazis, Jazz gehört. Habe getanzt, habe mein Mädel, die Edith geliebt und unsere gemeinsame Tochter Dagmar vergöttert.

Als junger Mann zog ich in die Ferne, machte auf einem Segelschiff meine Grundausbildung während einer Schiffsfahrt um Afrika. Ich ging zur Armee und arbeitete in einem U-Boot. Wir von der Marine winkten ja immer freundlich und sagten, eigentlich seien wir doch gar keine Nazis und hätten mit diesem Pöbel doch wenig zu tun. Ab und an holte uns dann doch die Wirklichkeit ein.

Als wir in Schweden jüdische Kinder aufnehmen mussten und dafür sorgten, dass sie ihren Häschern im Zug zugeführt wurden. Da zerbarst die Lüge, die Illussion vom besseren Militär. Aber doch blieben mir ethische Überlegungen immer wichtig und als in den Fünfziger Jahren dann die neue Armee gegründet wurde, sagte ich: Nein. Ich wollte nicht mit all den alten Nazis eine neue Armee aufbauen. Da zog es mich doch eher zu unseren amerikanischen Befreiern.

Sie gaben mir eine Heimstatt, gute Jobs und gute Freundschaften. Doch manchmal kam ich ihnen zu nahe. Als meine Tochter ein Liebesverhältnis mit einem schwarzen GI begann, sorgte ich dafür, dass mein Vorgesetzter meiner Tochter erklärte, welche Probleme sie ihr ihrem Leben mit einem schwarzen Freund in den USA erwartete. Es war die Zeit der Rassentrennung. Schwarze durften nicht im Bus mitfahren und wenn doch, dann nur hinten. Es gab getrennte Bänke für Schwarze. Mein Liebling wollte das nicht hören, nicht einsehen.

Wir können doch nach Paris ziehen, dort geht es den Schwarzen doch gut. Was sollte ich tun? Ich sorgte dafür, dass er versetzt wurde – dank der Hilfe meiner Freunde in der US-Army. War es richtig? Ich glaube, Dagmar akzeptiert es heute. Dass ich allerdings die Position der US-amerikanischen Militärs unterstützte, Vietnam mit Atombomben zu bewerfen, das verzieh sie mir nicht. So wie sie dachte allerdings, glücklicherweise, auch der damalige Präsident John F. Kennedy und so blieb Vietnam von der Atombombe verschont. Dass Kennedy allerdings den Krieg, den er geerbt hatte und ihn nie wollte, dann mit dem Einsatz von Napalm, Agent Orange, fortsetzte war auch nicht viel besser.

Edith, Bremerhaven
Jahrgang 19

An der Seite eines feschen Militärs in toller Uniform. Ein Seefahrer. Ein Mann der Freiheit, weltoffen, umsegelte Afrika und war U-Boot-Kommandant. Der Vater unserer geliebten Dagmar. Ein liebevoller Ehemann, ein großzügiger Vater. War es gut, dass er uns damals, nach dem Ende des Krieges, World War Two riet, aus der britischen Zone in die amerikanische zu ziehen?

Klar, die Briten hatten die Deutschen in ihrem Land kennen gelernt, die Amerikaner nicht. Sie, „die Amis“ waren reich, waren großzügig, bestraften die Kinder nicht für die Taten ihrer Eltern. Aber sie führten auch eine Zeitlang die Überprüfung der Vergangenheit der Deutschen intensiv und gründlich durch. Und so kam es, dass mein Mann, der Werner, als ehemaliger U-Boot-Kommandant nicht zum Lehrer-Studium zugelassen wurde. So orientierte er sich zu den Amerikanern und fand bald bei ihnen eine gute Anstellung.

Ich machte unsere Tankstelle bald alleine mit meinen Mitarbeitern, während Werner seinen Weg als Zivilist bei der US-Army machte. Unserer Ehe hat es gut getan, meinem Weg als sebstbewußte Frau auch. Ich wurde stark und immer kritischer. Bis zuletzt war ich bei den Grauen Panthers aktiv und auch in der Friedensbewegung. Mein Mann verstarb viel zu früh und so lebte ich mehr als zwei Jahrzehnte alleine, aber auch frei. Als starke Raucherin bekam ich Lungenkrebs, kämpfte gegen ihn und verlor den Kampf.

Den Hinweis eines jungen Arztes, dass ich es akzeptieren solle, dass ich noch ein Jahr zu leben habe und mir ein gutes Leben machen sollte, ignorierte ich. Es war für mich, wie ein Todesurteil. Ich akzeptierte es nicht und begab mich in ärztliche Behandlung. Die Bestrahlung machte mir Hoffnung, aber mein Leben wurde nicht besser. Vielleicht hatte der junge Arzt doch recht? Die Zigaretten jedenfalls haben mir immer gut geschmeckt.

Dagmar, Bremerhaven
Jahrgang 1944

Dass mein Vater, der von mir so geliebte Vater, mit dem ich morgens am Frühstück AFN hörte (meine Mutter als Morgenmuffel blieb noch im Bett), Spaß hatte und gute Gespräche, Atombomben auf Vietnam schmeißen wollte – ich dachte ich spinne. Wo war der freiheitliche Mann geblieben, der, wäre er nicht als Christ erzogen worden wäre, Buddhist geworden wär, er, der auch während der Nazi-Zeit Jazz hörte und mir die großen Werke der Weltliteratur zum Lesen gab?

Er war klug und schleppte mich zu seinem Vorgesetzten, der mir eindringlich schilderte, wie es einem Schwarzen in den USA geht. Mir blindem Huhn, verliebt bis über die Ohren in meinen schwarzen GI James, fiel es wie Schuppen von den Augen. Wollte ich das – in einer Rassengesellschaft leben, meine Kinder großziehen? Wäre ich so stark, dass ich die Anfeindungen ertragen könnte? Von den Schwarzen, die die Weißen nicht mögen, von den Weißen, die die Frau nicht mögen, die mit einem Schwarzen zusammenlebt?

Ich weiß es nicht. Eines Tages war er weg. Wir schrieben uns noch ab und an, aber das Leben ging weiter, neue Männer kamen, neue Lieben. Aber, toll, wir sind Freunde geblieben, und als wir – meine große Liebe Dieter E. und ich – 1997 – unsere Hochzeitsfeier feierten, kam auch James aus den USA zu uns. Wahnsinn. Sehr schön.

Sara, Grenzach-Wyhlen
Jahrgang 2001

Puh: Nun ist also mein Vater auch unter der Haube. Jetzt am Wochenende haben sie geheiratet. Standesamtlich und kirchlich. Und ich war dabei. Schön. Ich möchte, dass es meinem Vater gut geht. Ich finde die Neue gut. Karl lebt ja nach wie vor in seiner Gartenhütte. Aber ihm droht Gefahr: Die Gemeinde plant eine Straße und dafür brauchen sie sein Grundstück. Er will nicht abgeben, aber die Gemeinde kann ihn enteignen.

Vielleicht hilft die Anwältin von Mama. Aber wahrscheinlich will Mama das nicht bezahlen, Karl hat ja sowieso kein Geld, und ob seine neue Flamme das hat. Mama fragte: warum mussten die sich jetzt auch noch kirchlich trauen? Maja hat es nicht so mit Religion. Zum gemeinsamen Essen hatte ich dann keine Zeit, weil ich anderswo eingeladen war.

Jetzt sehe ich schon Dieter den Kopf schütteln. Essen ist für ihn Gemeinschaft. Aber ich machs halt anders. Zur Zeit habe ich ganz andere Probleme. Wegen dem blöden Corona bekomme ich keine Termine für Bewerbungsgespräche. Aber für was habe ich denn die Ausbildung in Freiburg gemacht? Damit ich jetzt im Wald spazieren kann.

Und überhaupt: Warum kann frau heute nicht Bewerbungsgespräche online machen. Wir haben doch heute jeder ein Smartphone. Und sonst? Ich suche noch nach einer neuen Mitmieterin für mein Haus. Und dann soll das endlich zu Ende gehen mit dem blöden Covid-19.

Lola Mia, Berlin
Jahrgang 2014

Oh nein, nicht schon wieder. Schon sprechen meine Eltern davon, dass vielleicht bald wieder die Schule geschlossen wird wegen der Pandemie. Bitte nicht. Wochenlang war ich mit Mama allein zuhause. Meine Eltern haben sich ja getrennt. Mein Vater hat sich in der Nähe eine Wohnung gemietet. Da bin ich dann natürlich auch ab und an. Aber immer fragt Mama, ob seine Freundin auch da war. Das darf sie nämlich nicht, wenn ich bei Massi bin. Das ist vielleicht blöde. Aber warum muss er denn auch eine Freundin haben.

Aber irgendwie ist das auch klar. Meine Eltern haben immer mehr gestritten, meistens ging es um mich. Der Unterricht zuhause war schwierig. Mamm ist lieb, aber als Lehrerin ist sie nicht so doll. Massimo ist da besser, aber meistens hatte er gar keine Zeit. Er muss ja immer arbeiten, sitzt an seinem Laptop und dann darf ich ihn nicht stören. Oft ist er auch unterwegs. Er kämpft ja gegen die Nazis.

Oft waren wir, Vanessa, Massimo und ich auf Demonstrationen. Das war toll. Zwar immer zu laut, aber laut kann ich auch. Als Massimo mal bei meiner Oma etwas von der NSU erzählte, sagte Oma erstaunt: Was die NSU gibt es immer noch? Dieses schicke Motorad hatten wir auch früher mal. Massimo rollte die Augen und erklärte Omi genervt, dass das die Menschen seien, die die vielen Emigranten getötet hatten. Hoffentlich tun sie meinem Papi nichts, er tritt ja immer wieder auf Demonstrationen, auf Kongressen auf.

Da bin ich richtig froh gewesen, dass Corona dafür gesorgt hatte, dass Massimo nicht mehr rumfahren durfte, sondern zuhause bleiben musste. Ich freue mich auf den Sommer. Dann darf ich mit meinem Vater nach Moneglia fahren. Und Mama hat gesagt, dass sie und ich nächstes Jahr auch zu Oma Daggi nach Apulien fahren. Schade, dass Massimo nicht auch mitkommt. Jetzt muss ich aber in die Schule. Ich freue mich auf meine Freundinnen.

 

Von Dieter Emil. Baumert
Oktober bis Dezember 2020

Copyright Dieter Emil Baumert und VG Wort