Marco Schwarz. Nihilio im Westen
Eine Reise durch Abgründe von
Jahren und Gedanken. Ins Licht?
Roman
ISBN-10: 3-8334-9439-5
ISBN-13: 978-3833494390
Von Dieter Emil Baumert. 7. Mai 2008. © by VG WORT
Marco Schwarz hat in seinem Roman „Nihilio im Westen“ einem Gelehrten aus dem China des sechzehnten Jahrhunderts eine schöne Geschichte gewidmet und ich empfehle sie meinen Lesern als Jugendbuch des Monats.
Ein kleiner chinesischer Junge vom Land eignet sich in seinem Wesen nicht für das herbe, harte Leben im bäuerlichen China um 1565. Weder als Bauer, noch als Handwerker, weder als Beamter, noch als Fischer. Sein praktisches Unvermögen wird ihm mit Lieblosigkeit vergolten, und es fehlt nicht viel, dass es ihm so erginge, wie man es im Badischen den Haustieren androht: „Wenn due nit folgsch, kummsch ind Wurscht“. Wen wundert es da, dass der kleine Junge, auch später als Mann, die Tiere und Pflanzen so liebt, und, so der Autor, „fast könnte man meinen, er verstehe ihre Sprache und zöge es vor, sich mit ihrem Geist zu messen.“ Und mit jeder Konsequenz, zu der nur Kinder und Weise in der Lage sind, weigert er sich sein Leben lang das Fleisch von Tieren zu essen.
Der reiche Onkel aus der Stadt weiß jedoch einen dritten Weg zwischen Totschlag oder Zukunft als Dorftrottel, „der täglich um seine Schüssel Reis bettelt. Das aber zeigt uns den dritten Weg, denn diese Schale Reis könne er sich auch als Mönch in einem Kloster erarbeiten. Gebt ihn den Mönchen.“ Wie es das Schicksal will, kommt ein buddhistischer Wandermönch vorbei, der den Jungen nach Pulsdiagnose und Blick in seine Seele gerne in sein Kloster mitnimmt.
Dort wächst er auf und lernt die Dinge der Welt, die Heilkunde, die Meditation, den „formvollendeten Umgang mit seinen Mitmenschen“, das Schreiben und das Lesen und sogar die Sprache eines der Mönche, der einst aus dem fernen Persien nach China kam. Doch im Beginn des „Frühlings des zwanzigsten Lebensjahres“ hat der Älteste längst erkannt, dass da kein frommer Mensch in seinen Klostermauern zum Jungmann heranwuchs und dass dieses Menschenkind die Welt außerhalb der Klostermauern kennen lernen muss. Und so wird er als junger Erwachsener auf Wanderschaft ‚gen Westen entlassen.
Der Held der Geschichte zieht durch das weite China, durch Persien bis nach Griechenland, lebt in Sizilien, Italien, Deutschland, der Schweiz, Frankreich, Spanien, um am Schluss wieder als Mönch, diesmal mit seiner Geliebten als Schülerin, in einem eigenen Kloster auf der kanarischen Insel Teneriffa zu enden.
„Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss! / Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!“
(Bertold Brecht – Der gute Mensch von Sezuan)
Als Händler zieht er durch die Welt, aber sein Urteil über die Händler fällt selten wohlwollend aus. Wie ihm überhaupt wenig wohlwollende Urteile über seine Mitmenschen über die Lippen kommen. Er sieht den Menschen mit ihren kleinen Sorgen und ihren Finten, den Alltag zu leben, oft genug, um den Mitmenschen übers Ohr zu hauen. Er erlebt Gewalt und Hass, Engstirnigkeit und Fanatismus. In den Religionen, die ihm begegnen, kann er wenig Attraktives entdecken und so entwickelt er eine Philosophie der Menschenfreundlichkeit, wie sie etwa zur gleichen Zeit auch Erasmus von Rotterdam entwickelte.
Wie es sich für einen Autor vom Hochrhein gehört, kommt der Protagonist der Geschichte auch nach Säckingen, um einen Freund zu treffen, mit dem er einst Handel trieb und der ihm am Ende der Geschichte auch mit seiner Familie auf die Kanarischen Inseln folgen wird.
Im schönen Basel lehrt er 1609, wie einst zwischen 1606 und 1608 in Genua, doch als die Pest die Stadt heimsucht, kann er noch rechtzeitig sein Leben retten und macht sich auf in sein Traumland Teneriffa.
Es ist eine schöne Geschichte vom Menschwerden in schwieriger Zeit.
Sein geistiges Handwerkszeug ist eine Mischung aus I Ging, Taoismus und Buddhismus und erinnert an die neueren Instantreligionen, die aus verschiedensten Jenseitsvorstellungen eine Handlungsanweisung fürs Diesseits zusammenbasteln. Ein gewagtes Unterfangen um Sechzehnhundert. Bedauerlich, dass der chinesische Wanderer im Westen so wenig Anderes in sein Weltbild aufnehmen kann. So hätte ihm der freiheitliche mystische Islam des Averroes gute, wesentliche Aspekte menschlichen Daseins vermitteln können. Dies ist erstaunlich, da der Protagonist der Geschichte auch in Spanien lebte und im Sizilien des von ihm bewunderten Federico Secondo, der wie wohl kein anderer Herrscher dieser Zeit Ost und West zusammenbrachte und die Einflüsse des Islam in seiner Blütezeit ebenso in sein Weltbild integrierte, wie das Weltwissen der Juden. Doch auch ohne diesen Einfluss entwickelt der Mönch als Händler und Gelehrter seine Philosophie des Humanismus. Doch anders als die großen Humanisten seiner Zeit geht er mit seinen Erkenntnissen nicht an die Öffentlichkeit. Am Ende verbrennt er auf der kanarischen Insel seiner Glückseligkeit sein Manuskript. Eine Idee, so der Autor, käme nicht zur Entfaltung, wenn ihre Zeit nicht gekommen ist…
Ist dies nun östliche Weisheit oder westlich-reaktionäres Denken? Dem Mönch muss, anders als bei Brecht, die Weisheit nicht vom Zöllner abgepresst werden. Aber anders als bei Brecht und anders als auch in der Geschichte der Menschheitsideen, ist in diesem Roman niemand da, der die Idee der Nachwelt erhält. Also kein Tao II, kein I Ging II.
Das Buch ist in einer schönen Sprache geschrieben. Sie wird Jugendlichen Mut machen, die Werkzeuge ihrer Sprache zu nutzen. Und sie können an diesem Text auch lernen, dass auch er seine Schwächen hat. Ob die Klempnersprache das adäquate Ausdrucksmittel als Sprache des Begehrens ist, darf bezweifelt werden und so wird der Jugendliche das – vielleicht im Dialog mit anderen, gemeinsam – Variationsmöglichkeiten des Liebesspiels entwickeln können, das über das spröde „ein Rohr verlegen“ des Autors hinausweist.
Es ist nun – meines Erachtens: leider! – Auch von einem zweiten Buch zu berichten, sozusagen dem Buch im Buch:
Es handelt vom Autor in seiner kleinen Schreibstube am Hochrhein. Er lebt um die zweite christliche Jahrtausendwende. Er ist ein Mensch, wie du und ich, kurz und bündig gesagt: Er ist ein Trottel. Zwischen Internet, Softpornos und TV-Konsum vegetiert er dahin, siecht am Hartz-IV-Satz des bundesrepublikanischen Sozialstaates als selbstständiger Pekariatist umher, leidet an Hautauschlag und an der Krankheit seines Hundes Harri und kultiviert seine zumeist eingebildeten Krankheiten, wie der König des Trash, Harald Schmidt. Wenn er samstags in die nahe Stadt zum Einkaufen fahren muss, dann ist das für ihn der Horror, und er malt ein Gemälde, als würde Hank auf den Highways um Los Angeles feststecken, obwohl der doch nur ein Sixpack Bier kaufen wollte.
Dies gehört – und der Autor legt ausdrücklich Wert darauf – zum Roman dazu. Wie wiederum Brecht beim „guten Menschen von Sezuan“, das Gute und das Böse eins ist. "Euer einstiger Befehl / Gut zu sein und doch zu leben / Zerriss mich wie ein Blitz in zwei Hälften. Ich / weiß nicht, wie es kam: gut sein zu anderen / Und zu mir konnte ich nicht zugleich. / … Denn wer könnte / Lang sich weigern, böse zu sein, wenn da stirbt, wer kein Fleisch isst.“ (Bertold Brecht, Der gute Mensch von Sezuan)
„So genau wollte ich das gar nicht wissen“, möchte man zu seinen Alltagsgeschichten anmerken und denkt unwillkürlich an den auch nicht mehr ganz so frischen Spruch aus der Frauenwelt: “Männer ab vierzig sind wie öffentliche Toiletten: Entweder besetzt oder beschissen.“
Iris Radisch schrieb dieser Tage (in: DIE ZEIT Nr. 17, 17. April 2008 – Das Buch vom Sterben – Ulla Berkéwicz hat ein Requiem auf ihren Mann Siegfried Unseld geschrieben): „Einen solchen Ton anzuschlagen ist riskant und war es immer schon. Aber das will noch nicht viel heißen. Alles in der Literatur ist riskant, auch der Fick-und-Bierdosen-Ton ist riskant und läuft an jeder Ecke Gefahr, an seiner eigenen Banalität und Langeweile zu verrecken.“ An so einer Ecke steht auch Marco Schwarz.
Auf dem Umschlagstext steht: „Marco Schwarz, Jahrgang 1955, ist in der Gegenwart angekommen.“ Jetzt sind Klappentexte eine besondere Sache und manche Verleger machen sie nur, um rauszukriegen, ob der Rezensent das Buch auch gelesen hat oder nur den Klappentext zitiert. Der Autor kann im Normalfall nichts für diesen Wortschwulst, der euphemistisch Text genannt wird. In diesem Falle ist es aber anders, weil hier der Autor gleichzeitig auch der Verleger ist. Wir können also die alte Single von André Heller auflegen: „Kumm ma mit kane Ausreden mehr.“
Wenn Marco Schwarz mit seinem halben Jahrhundert gelebten Menschenlebens „in der Gegenwart angekommen ist“, dann stellt sich die Frage: Wo war er bisher? Es gibt, logischerweise, nur zwei Möglichkeiten:
a) Er war in der Vergangenheit oder
b) Er war in der Zukunft.
Wenn er bisher in der Vergangenheit lebte, dann ist seine Sprache, die sein Leben im Jetzt, also im Hier und Jetzt, beschreibt, seltsam maschinistisch. Sie erinnert in ihrer Verdichtung von Nonsens an die nachmittäglichen Schreishows im Fernsehen, wenn sich Mutter und Tochter oder Mädchen und Jungs anschreien, um sich, hauptsächlich aber den anderen, zu zeigen, dass sie von den vier Ws der Problemlösung nichts, aber auch rein gar nichts verstanden haben: Erstes W: Was ist das Problem. Zweites W: Wo ist das Problem. Drittes W: Wie löse ich das Problem. Viertes W: Wo löse ich das Problem.
Wenn der Autor hingegen sich bisher in der Zukunft aufhielt, dann stellt sich mir die Frage, warum er keine Lösungsvorschläge für die großen Menschheitsprobleme mitgebracht hat? Wie ist der Hunger auf der Welt zu beseitigen? Wie sind die schweren Krankheiten zu heilen bzw. zu verhindern? Wie lässt sich Armut abschaffen und Gewalt in Zukunft verhindern? Wie können wir eine gerechte Gesellschaft schaffen? Wie können wir unseren Planeten erhalten? Für diese Menschheitsfragen sollte es in der Zukunft doch Antworten geben? Warum hat der Zeitreisende keine ins 21. Jahrhundert zurück mitgebracht? Sollte es etwa jedem, der in der Zukunft war, so ergehen wie David Bowie in dem Film „Der Mann, der vom Himmel fiel“, dass er auf dem Weg aus einer anderen Welt in die Jetztzeit seine Aufgabe vergisst, derentwegen er hier ist? Das wäre dann die bitterste Antwort auf Fragen, die Marco Schwarz am Rande seines
Alltags sich und damit auch dem Leser stellt.
„Wir stehen selbst betrübt und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ (Bertolt Brecht – Der gute Mensch von Sezuan)
Wenn der Autor seinen Stil so beschreibt, dass er Bukowski und Hesse mischt und einige Prisen alltäglichen Irrsinns in den Topf des Alchimisten als Schriftsteller gibt, so wünsche ich mir, vielleicht für eine zweite, überarbeitete Fassung, dass er auch noch eine Prise Handke, eine Prise Lütkehaus und eine Prise Tolkien und, ja warum nicht, auch noch eine Prise Zimmerschied dazugibt. Und am Schluss: Würzen mit Beauvoir. Dann kann das Buch im Buch der würdige Schatten sein, den das lichte Buch von Marco Schwarz verdient hat.