DEB, 7/1979

Wunschtraum Europa

Impressionen des Südens

Carrefour des Literatures Europeens
De Strasbourg 1991

Von
Dieter Emil Baumert
Lörrach – Dreiland

Herbstabend im Dreiland. Endlich haben die Blätter der Bäume ihr buntes Herbstlaub und schon fallen sie ab. Dieses Jahr gab es nicht die wunderschöne Sonne des Oktobers hier für sie, nur die Kühle, der Regen und der Nebel des Novembers. Letztes Jahr ist die große Buche vor dem Haus vertrocknet, ja, als ich in Australien war. Wie alt mag sie gewesen sein, 80 Jahr oder mehr? Rentner fanden unter ihren Zweigen Schutz, Kinder Platz zum Verstecken, Großmütter Bucheckern für Gestecke und Waldmenschen Energien fürs Stadtleben.

Impressionen des Südens. Nie sah ich einen so wunderschönen Herbstwald wie in Jugoslawien, so voller Farben, Gold und nochmals Gold. Irgendwann vor vierzehn oder fünfzehn Jahren. Die schöne alte Stadt am Meer war noch nicht belagert, was störten die Touristen schon groß, war doch selbst einer. Und noch einmal Jugoslawien, vielleicht nochmals fünf, sechs Jahre früher. Wieder auf dem Weg nach Griechenland, trampend durch jugoslawische Einöde. Nur Turis nehmen mich mit, den Jugoslawen ist es verboten und sie halten sich daran, wer will schon Ärger, nur wegen einem Touristen? Und dann wird es Nacht, so wie jetzt auch, und irgendwo ist da eine kleine Stadt und ich in ihr. Die Menschen drängen zum Bahnhof, es ist kalt und sie haben es eilig. Und doch ist da ein Mädchen, das sich freut, einen unbekannten Gast aus dem Westen zu sehen, nimmt mich mit nach Hause, nimmt mich mit in den Jugendclub, oder ist es eine Disco oder einfach eine alte Garage? Und da spielen sie dann die Rockmusik des Westens, auch jugoslawische, fragen mich auf englisch, weder sie noch ich konnten es besonders gut, nach dies und jenem. Wir versprachen uns zu schreiben und sie schrieben auch, wie jene griechische Familie, zu der ich dann fuhr, aber wir nahmen das Schreiben damals nicht so wichtig, die Kontakte über Länder hinweg waren uns zu mühsam, vielleicht der Inhalt zu banal, eine Ausrede
findet sich immer.

Gestern kam ein Brief von Abdel Asis aus Marokko. Vor sechs Jahren hatte er mal eine Woche bei uns gewohnt, wir hatten uns beim Trampen gefunden und es war gut. Vielleicht wirkte die Freundlichkeit des jugoslawischen Mädchens nach, vielleicht wirkte das Lachen und die Musik dieser Jahre nach, so lange nach diesen wenigen Stunden.

Ich werde dem jungen Marokkaner, der seit sechs Monaten Vater einer Tochter ist, schreiben und vielleicht werden wir uns bald einmal in Marokko sehen, vielleicht werden wir Freunde, vielleicht ertragen wir die Fremde des Anderen. Heute hat ein junger Mann den Anstecker „Mach meinen Kumpel nich an“ gekauft, auch der ist sicher sieben Jahren alt, auch „SOS racisme“ ist wieder aktuell, alle Jahre wieder, eigentlich langweilig.

Dieses Jahr habe ich die Feigenzeit verpasst. Im Süden war ich nicht und zum Türken um die Ecke kam ich nur im Frühsommer, da gab es aber noch keine Feigen und „der Italiener“ hatte auch keine. „Der Italiener“ sagen wir halt, als sei er stellvertretend für Tausende von italienischen Mitbürgern, der eine, so wie die Türken in ihrem Lebensmittelgeschäft „der Türke“ ist. Ob ich für sie wohl „der Deutsche“ bin?

Der Wunschtraum Europa lebt in den Städten, wie der meinen und auf dem Lande, dort im fernen Jugoslawien ebenso wie im nördlichen Marokko. Und meinem australischen Kochkollegen werd ich nach Toowoomba schreiben, werd ihm von den Mädchen in jenem jugoslawischen Dorf berichten und ihm damit meine Antwort auf die Frage vom letzten Jahr geben, dass Jugoslawien doch zeige, dass das Miteinander der Völker nicht möglich sei und werd ihm unsere Utopie des Zusammenlebens, friedvoll, die Anderen achtend, senden. Und vielleicht wird er uns nächstes Jahr, wenn er nach Europa kommt, erzählen, dass jetzt im Chalet-Restaurant in Toowoomba auch Aborigines zu Abend essen, vielleicht dann auch das wohlschmeckende, verbotene Kängurufleisch, die traditionelle Nahrung der Aborigines. Und vielleicht wird er wieder seine wunderschönen, ordinären Flüche über die Deutschen machen, und wir werden lachen und lachen und eine kleine Träne wird sich auf die Reise machen, nach Jugoslawien vielleicht, vielleicht nach Marokko.