DEB by Dagmar Perinelli

Herbstreise ins Dreyeckland – heuer ohne Elsass

Sonntag 24. Oktober 2010 bis Freitag 29. Oktober 2010

Grund: Abgabe der notariell beglaubigten Unterschriftenerklärung

Von Dieter Emil Baumert

Nachbar Siegfried W. hat ein Auto geschenkt bekommen. Ford KA. Seit zwei Monaten hat es keinen TÜV mehr und so will Sigi, wie ihn seine Ehefrau nennt, das Auto in Deutschland ummelden lassen. Da der bayrisch-stämmige bundesdeutsche Verkehrsminister der CSU, Peter Ramsauer, ab 1. November die Winterreifenpflicht angekündigt hat,
will er noch im Oktober diesen Trip – Apulien-Bayern – unternehmen. So bietet er mir an, dass ich mitfahren kann, und ich nehme das gerne an.

Unterm Strich wäre die anvisierte Flugreise mit Ryanair von Bari nach Karlsruhe für mich dann doch erheblich billiger gewesen und schneller allemal. Aber ich hätte weniger von Land und Leuten gesehen und auch wahrscheinlich weniger erlebt.

So fahren wir denn am frühen Morgen des Sonntag, vierundzwanzigster Tag im zehnten Monat des zehnten Jahres des einundzwanzigsten christlichen Jahrhunderts frühmorgens um ein Uhr los. Während ganz Europa, die USA und auch anderswo die Regierungen ihre Unterwerfungserklärungen für die Banken abgeben, kann auch ich nicht beiseite stehen und muss mich unterwerfen. Die Fahrt ist lang und angenehm. Siegfried ist ein disziplinierter und guter Autofahrer, der keine Abenteuer wagt und uns sicher dem Ziel entgegensteuert. Erst kurz vor dem Ziel begeht er einen Flüchtigkeitsfehler und übersieht einen überholenden Autofahrer. Es passiert aber nichts.

Immer beim Tanken macht Siegfried eine Pause. Dann geht er mit seinem Täschchen, früher wurde das in Deutschland "Kulturbeutel" genannt, auf die Toilette. Was er da macht, weiß ich nicht. Wahrscheinlich nimmt er als Herzkranker Medizin, vielleicht erfrischt er sich auch.

Mir reicht meist das einfache Wasser abschlagen, und so erkunde ich das Warenangebot der italienischen Raststätte. Es ist gut. In jeder Region wechselt das Angebot. Das umfangreichste und beste ist das in der Region Toskana. Die Raststätte … hat das beste Angebot. Immer trinken wir dann einen Kaffee, dazu einen Becher Wasser. Während wir im Süden ungefragt einen Becher Wasser gereicht bekommen, müssen wir im Norden extra danach fragen.
"Der Service", sage ich, "ist im Süden besser."

Siegfried zahlt. Ich bedanke mich. Er bezahlt wieder. Ich bedanke mich wieder. Er bezahlt erneut. Ich bedanke mich erneut.

Träge bin ich,
meine Ruh,
mache oft
die Augen zu.

Auf der Rückfahrt zahle ich und lade ihn in Illertissen auch zum Fleischkäsbrötchen vom Metzger ein.
"Dann hätten wir auch beim Metzger essen können", sagt er später im Auto.

Beim Tanken. Tankwart:
"Ich überprüfe das Öl."
Siegfried findet den Hebel zum Öffnen der Motorhaube nicht. Der Tankwart beugt sich ins Innere des Autos und zieht den Hebel, der sich unter dem Lenkrad befindet. Der Tankwart misst den Ölstand. Er ist in Ordnung. Er weist auf das schwarze Öl auf dem Messstab und sagt:
"Das Öl ist alt. Es muss gewechselt werden."
Siegfried verneint. Der Tankwart insistiert, doch Siegfried will das Öl nicht wechseln. Der Tankwart ist verärgert. Er bekommt 50 Cent Trinkgeld. Er ist nicht zufrieden. Siegfried später im Auto:
"Das machen die immer so. Dabei ist das noch gar nicht nötig. Dann verlangen sie viel Geld. Und außerdem behalten sie pro Dose ein Zehntel zurück. Das hat mir mal mein Werkstattmann in Illertissen erklärt."

An der großen Toskana-Raststätte sind wir rausgefahren. Vorher fuhren wir drei roten Ferraris hinterher, die im Dreicorso auf der Autobahn fuhren.
"Schuhmacher", sagt Siegfried, "sitzt da nicht drin. Der ist in Korea."
Wir kommen aus der Raststätte – gleich neben dem Eingang haben wir geparkt. Ein kleiner, älterer Mann spricht mich an.
"Sie kommen aus Deutschland? Ich habe auch in Deutschland gearbeitet. In der Spedition.“ Er zeigt mir eine Visitenkarte der Speditionsfirma. Wollen Sie einen Laptop kaufen? Sehr billig. Wollen Sie mal sehen? Kommen Sie mit."
Ich gehe ein paar Schritte mit. An der Wand der Raststätte steht ein etwa dreißigjähriger Mann. Er öffnet die Laptoptasche und holt einen nagelneuen Laptop heraus. Die Schutzfolie ist noch drauf. Er startet ihn und sagt:
"Alles gut. Hier neues Windowsprogramm", und ich sehe das Erkennungsbild von Windows Sieben. Dann greift er in die Tasche und zieht einIphone heraus.
"Das Iphone gibt es dazu und dieses Navigationsgerät auch."
Der ältere Mann sagt:
"Das ist mehr wert als zweitausend Euro und ich verkaufe es Ihnen für eintausend.“"
Ich schüttle den Kopf und sage Nein und gehe. Sie folgen mir.
"Kaufen Sie doch, kaufen Sie doch. Wie viel ist es Ihnen wert?"
Ich sage: "Dreihundert Euro."
Ich gehe weiter. Siegfried ruft:
"Los, steig ein. Mit solchen Leuten geht man doch nicht mit."
Ich steige ein. Jetzt stehen an beiden Seiten des Autos die Männer. Siegfried ruft verärgert:
"Los. Geht!"
Wir fahren.
"So ein Teil kommt mir nicht ins Auto."
Der Junge beugt sich zu mir ins Auto und küsst meine Hand, sagt:
"Brauche Essen für Frau und Kinder. Kauf. Für zweihundert Euro ist er Dein."
Siegfried greift zu seinem Handy und tut so, als wolle er telephonieren. Die Beifahrertüre ist noch offen, aber er fährt zurück, drängt damit den jungen Mann weg. Der flucht. Der Alte bespuckt Siegfried. Die beiden laufen weg. Der Junge zu einem Pickup, der sehr militärisch aussieht. Siegfried:
"Da geht man doch nicht mit. Da macht man sich doch strafbar. Das ist doch garantiert Hehlerware. Ich habe auch mal fünf Uhren für eintausend Mark gekauft. Dann hat sich herausgestellt, dass das alles billiges Zeug war."
"Aber der Laptop war neu, und das Iphone sicher auch keine Fälschung", sage ich. Nun hatte ich keine zweihundert Euro dabei. Aber ich gestehe: Ich wurde schwach. Allein hätte ich es wahrscheinlich gekauft. Aber es musste ja gestohlen sein, sonst hätten sie es nicht so billig anbieten können. Ich hätte also den Diebstahl mit meinem Kauf unterstützt? Ja, wahrscheinlich und ich merke, dass das nicht richtig ist. Also: kein neuer, funktionsfähiger Laptop, kein neues Iphone.

Auf den Hängen in Tirol liegt schon Schnee. Die Wälder sind herbstlich gülden gefärbt. Es wird die ganze Reise so bleiben – goldene Oktobertage begleiten mich auch im Markgräflerland, in Basel, Lörrach und Weil, am Tüllinger wie auch auf dem Lörracher Marktplatz, in Rheinfeldens Innenstadt genauso wie an den Ufern des Hochrheins bis hinauf nach Bad Säckingen.

In Illertissen geht unsere gemeinsame Reise zuerst einmal zu Ende. Ziemlich bald bekomme ich einen Zug nach Ulm. Ein junger Mann, der uns auf dem Bahnsteig seine Hilfe anbietet, tippt selbstsicher die Daten in den Fahrkartenautomaten. Die billigste Variante ist mit dem Baden-Württemberg-Ticket auf der schwäbischen Eisenbahn über Biberach nach Waldshut. Doch dort würde ich um zweiundzwanzig Uhr festhängen. Wie dann weiter nach Istein kommen?
"Uf de schwäbische Eisebahne, do wollt emol ä Bäuerle fahre, vo Sturgart bis uf Biberach… Trulla trulla trullala…"
Das Lied hätte mich fast bis nach Biberach gebracht. Tage später werden es Stuttgart 21-Befürworter auf ihrer Kundgebung singen. Ich dagegen fahre über Ulm und Stuttgart nach Mannheim und dann nach Basel und Istein.
"Du kannst ja fragen", hatte mir Siegfried auf dem Bahnsteig in Illertissen gesagt, "ob Du als Armer oder Erwerbsloser Ermäßigung bekommst."
Nun sah Siegfried mit seinen verlatschten Turnschuhen, seinen verwaschenen Billigjeans und seiner übrigen legeren Reisekleidung viel mehr nach einem Arbeitslosen aus, als ich mit meinem sechsfädigen Kaschmirpullover und meinem Kamelhaarmantel. In Ulm fragte ich erst gar nicht nach Sozialrabatt, mir war klar,dass es diesen nicht geben würde. Weil ich die Pinn-Nummer meiner EC-Karte nicht mehr wußte, konnte ich mir keine Fahrkarte am Automaten ziehen, und der junge Mann sagte entschuldigend:
"Ja, mit Karte da kenn ich mich nicht so aus."
Zum Glück funktionierte in der Bank dann meine Schweizer Gelbe Karte. In Ulm frage ich den Mann im Informationsschalter nach einer Fahrkarte. Der verwies mich, chanchierend zwischen Mitleid und Genervtsein in das Servicezentrum hinter ihm. Drei Serviceplätze waren besetzt. Ein junges Paar stand vor einem Platz. Ich ging zu der jungen Frau an einem der beiden freien Plätze. Früher haben wir Schalter gesagt, aber das sind jetzt keine Schalter mehr, sondern Computer mit Frau dahinter.
"Sie haben keine Nummer gezogen", sagt sie mir zur Begrüßung.
"Soll ich wieder gehen?" frage ich.
"Nein, ich kann das hier manuell machen."

Ich gebe ihr meinen Ausdruck mit der gewünschten Verbindung, die der Schüler in Illterissen getippt hatte. Die Daten waren noch im Automaten. Niemand war inzwischen gekommen, und so konnte ich den Fahrplan ausdrucken.
"Fahren Sie diese Strecke öfters?"
Das war der Moment, in dem entschieden wurde, ob ich ein guter Kunde sein würde oder nur ein Exot.
"Nein, nur dieses Mal."
Das Interesse erlosch. Die Rückreise werde mit erster Klasse möglich sein, dafür sei sie aber billiger als die Hinfahrt.
"Wie bezahlen Sie? Mit EC-Karte?"
"Nein, bar."
Mitleidender Gesichtsaudruck.
"Wollen wir es noch einmal durchgehen?"
Mit gelbem Marker streicht sie an:

Abfahrt
Sparpreis
Umtausch. Erstattung 15 Euro.

Ich gehe und rieche meine Armut, obwohl diese nicht zu riechen ist. Im Kiosk sehe ich meinen Bruder Gert Robert, dessentwegen ich nach Deutschland gekommen bin. Aber er ist es natürlich nicht. Was sollte er in Ulm?

Der Zug ist übervoll. Es ist Sonntagabend. Ich frage eine Frau, ob neben ihr frei ist.
"Ja, bitte."
Doch kaum sitze ich, kommt eine weitere Frau mit einer Reservierung. Doch gerade nebendran ist ein Platz frei. Ein junger Mann sitzt dort am Laptop.
"Stellen Sie Ihre Tasche auf meine. Wir werden ja noch eine Weile zusammen sein."
Ich widerspreche ihm nicht. Er fährt nach Köln. Es fällt mir ein, ich könnte ihm jetzt sagen, in Köln arbeitet mein Sohn, aber da schrecke ich davor zurück. Ist Massimo denn mein Sohn? Nein. Aber zu sagen, in Köln wohnt mein Stiefsohn, das finde ich auch blöd, irgendwie ein Begriff von früher, und der junge Mann sieht nicht so aus, als würde er das goutieren. Ich frage ihn:
"Funktioniert das gut?" und meine eigentlich den Internetzugang im Zug. Er meint aber seinen Laptop und sagt:
"Ja, wunderbar. Und vor allen Dingen hat er acht Stunden Kapazität."
Ich trau mich nicht, ihn zu fragen, ob ich ein E-Mail an Daggi schreiben darf.

Bald kommt die Schaffnerin, neudeutsch Zugbegleiterin genannt, und fragt:
"Jemand neues da? Sind noch alle da?", und ich freue mich über den Spaß.

Ab Mannheim ist der Zug nicht mehr so voll. Die Stationen ziehen in der Nacht dahin. Bald kommt auch Baden-Baden. Es ist sicher nach zweiundzwanzig Uhr. Hier wäre ich auch gewesen, wenn ich mit dem Flugzeug gekommen wäre, dann wäre es aber so gegen siebzehn Uhr,
und wahrscheinlich hätte mich Ingrid dann abgeholt.

Kurz vor elf bin ich in Basel, und es geht gleich weiter nach Istein. Ein Markgräfler Ehepaar frage ich, ob das der Zug nach Istein sei, und sie antworten, dass sie das hoffen, schließlich wollen sie auch dorthin.

Viertel nach elf bin ich dann endlich in Istein. Ich wecke Ingrid, die schon geschlafen hatte. Gleich holt sie mich ab. Istein ist dunkel, das Dorf schläft schon – morgen beginnt die neue Woche, die Arbeitswoche. Am ersten Haus nach dem Bahnhof leuchten weiße Lichtkugeln im Garten, und ich freue mich, weil ich denke, dass es Moonlightlampen meines Mitlehrlings Willi Oswald sind. Später sehe ich im Internet, dass es alle möglichen ähnlichen Leuchten gibt, Plagiate oder Nachahmerprodukte, und Ruth schickt mir einen Zeitungsartikel über einen Politikerbesuch bei Willi Oswald. Die Chinesen haben wohl ein anderes Verständnis von geistigem Eigentum.

Die Begrüßung ist herzlich, ich trinke noch ein Glas Wein und esse die Brötchen, die Dagmar mit mitgegeben hatte.

In der Nacht werde ich wach, das Geräusch eines lauten Güterzuges dringt deutlich ins Zimmer. Ich werde auch die drei kommenden Nächte
wach werden und das Rattern der Züge hören. Ingrids Sohn Moritz wird sagen:
"Das höre ich gar nicht mehr."
Am Mittwochabend stehe ich gegen zwanzig Uhr am Bahngleis in Weil am Rhein und es rast ein Güterzug vorbei. Welche Gewalt./p>

Wie leicht ist die Forderung aufgestellt, die Güter auf die Schiene zu bringen. Aber sind sie auf der Schiene, fliegen sie nicht lautlos vorbei, wie nächtliche Schatten. Der vierspurige Ausbau der Rheinachse. Hier wäre eine Röhre sinnvoll. Aber unbezahlbar.

Am Morgen ein schönes Gespräch mit Moritz, der mit Grippe zu Hause ist. Mit dreißig Jahren will er eher studieren, obwohl er auch den Meister machen könnte.

Nachmittags bringt mich Ingrid nach Lörrach und ich hole den Mietwagen ab.

Im Rathaus gibt es erst am 2. November den neuen Ausweis. Zu gerne hätte ich ihn schon vorher gehabt.

Der Kofferraum klemmt und ich fahre zurück zu Aberer, nehme unterwegs einen Wandergesellen mit. Er ist auf dem Weg nach
Österreich. Hat sich und seinen Kollegen noch Autobahnkarten geholt.
"Eurocar ist die beste von Deutschland. Herz die beste der Schweiz. Da sind alle Raststätten eingezeichnet."

Das Schloss kann nicht repariert werden, doch ich kann nicht auf das Auto verzichten, also bleibt die Kofferraumtüre verriegelt.

Der Frisör hat zu. Gut so. Also, einiges bleibt so, wie es war. Dass der Frisör montags geschlossen hat zum Beispiel.

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