DEB by Dagmar Perinelli

Der Tag, an dem Leningrad befreit wurde

Gastbeitrag: „Was bedeutet mir der 27. Januar?“, FR-Meinung vom 26. Januar

Völlig zu Recht weist der Gesellschafts-Wissenschaftler Frank Nonnenmacher im Zusammenhang mit dem 27. Januar und der Befreiung aus dem Konzentrationslager Auschwitz durch Soldaten der Roten Armee auf weitere Verfolgtengruppen wie Sinti und Roma, Homosexuelle, sogenannte „Asoziale“ und Berufsverbrecher“ hin und auf die beschämend späte Anerkennung durch den Deutschen Bundestag dieser damaligen KZ-Häftlinge als Opfer des Nationalsozialismus.

Zum Datum des 27. Januar gehört aber noch ein anderes Ereignis, das der Historiker Dr. Daniel Niemetz als „eines der eklatantesten Kriegsverbrechen der Wehrmacht“ (MDR 06.10.2016) bezeichnete, nämlich die Leningrader Blockade als Teil des „rassistischen Vernichtungskrieges“ gegen die Sowjetunion. Auf persönliche Anordnung von Hitler hatte die Heeresgruppe Nord der Wehrmacht die 2,5 Millionen Einwohner des heutigen St. Petersburg vom 8. September 1941 bis 27. Januar 1944 eingeschlossen.

In dieser 872 Tage dauernden Blockade starben etwa eine Million Menschen. Niemetz dazu: „Ziel dieser NS-Strategie … ist es unter anderem, die Wehrmacht ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung aus den besetzten Gebieten zu versorgen und die Einwohner gleichzeitig durch Hunger zu vernichten … Vor allem Kinder, Alte und Kranke werden Opfer des Hungertodes. Die Menschen kippen einfach auf den Straßen um oder sterben in ihren Wohnungen. Der Tod wird zur Normalität.“ Leningrad wird am 27. Januar 1944 durch die Rote Armee befreit.

In der ersten Reihe der Abgeordneten des Deutschen Bundestages sitzt dann ein Alexander Gauland (AfD), der angesichts dieser Verbrechen ungestraft verbreiten darf: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.“ Was für ein Land!

Dieses Kriegsverbrechen der Wehrmacht sollte wegen seiner Monstrosität im Rahmen des jährlichen Holocaust-Gedenktages und der Gedenkstunde im Bundestag eine angemessene Berücksichtigung finden. Das könnte dazu beitragen, dass die damaligen Ereignisse in Leningrad zu einer weiteren Verbreitung in der deutschen Presse- und Medienlandschaft führen.

Manfred Heinzmann, Mörfelden-Walldorf

St. Petersburg

Impressionen einer Reise

3. bis 6. März 2000

Die Crossair-Tombola Reise

Danke, dass du mich mitgenommen hast – Dagmar Baumert zu Dieter Baumert – Danke, dass du mit mir gefahren bist – Dieter Baumert zu Dagmar Baumert 03. März 2000

Dienstag 07. März 2000

Strahlender blauer Himmel über Lörrach, die erfrischend junge Stimme von Sarah Mc Lachlan füllt den Raum. Zufriedenheit umgibt mich und doch spüre ich schon ein Druck im Rücken, ein Ziehen im Kopf, Kühle in den Füssen.

Flüchtige Momente

Die Momente des Glücks, das Lachen, die Hoffnung – wie sind sie flüchtig, wir können sie nicht festhalten, vielleicht können wir sie nachwirken lassen, einen Hauch in unsere Seele aufnehmen, in unseren Geist, in unser Herz.

Es war nicht die (mit 36 Dollar völlig überteuerte) Zigarre im Hotel Europe, genossen mit meiner schönen Frau im gemeinsamen Gespräch, es waren die wenigen Momente, wo die Frau an der Bar – die erste, die auf ihrem Namensschild Vor- und Nachnamen hatte, was sie als vollwertigen Menschen auszeichnete, nicht nur als Bedienung Wanja oder Karl, in der Hierarchie oben – mit mir eine Zigarre aussuchte, wie wir die Trockenheit prüften, die Spitze kappte, sie zündet sie an, das Streichholz brennt, es ist zu kurz, die Zigarre brennt nicht. "Ich habe es noch nie vorher getan" sie lacht. "Vielleicht sollten sie es einmal probieren" – ein verschmitztes Lächeln.

Ein irritierter Blick, als ich das Rausgeld behalte, doch ich habe den Augenblick spontaner Großzügigkeit verpasst. Doch, ich will es wettmachen, hole mir von Daggi noch 5 Dollar und bestelle ein Mineralwasser und lasse dann den Restbetrag liegen, ok, es ist geschafft. Das Lachen und das wache Interesse bleibt uns erhalten und nimmt uns mit.

Was bleibt ist auch das Lachen der jungen Bedienung im Jazz-Club, die sich freut, dass wir das sind. So wie es schön war, vor einem Jahr von Ruth Züblin zu hören "Schön, dass sie wieder da sind, Herr Baumert", die blauen Augen Katharinas, der Kollegin. Doch dies ist nur noch Erinnerung, die freundlichen Worte kommen nicht mehr, seit ich fast jede Woche zwei Tage da bin. Schade.

Die schönen Momente – wie präsent ist mir in meiner Seele das Lachen meiner Geliebten, meiner Daggi.

Und doch: wie hat es mich irritiert, die Momente der Brüche, wo die Stimmung kippt, wo aus Freundlichkeit und Offenheit und Interesse Ablehnung, Desinteresse wird.

Das junge deutsch-polnische Paar im Weltkunsttempel Eremitage: Noch hatte es uns an der Kasse geholfen, sie hatte uns gesagt, wir sollten keine Gebühren fürs Fotografieren zahlen, geschimpft über die Abzockermentalität der Russen, den Ausländern immer das x-fache der Preise für Einheimische zu verlangen, dann eine Stunde später die zweite Begegnung in der Eremitage. "Hat es geklappt?" "Ja, wir haben Geld geholt."

Der deutsche Mann schimpft über die Russen – anstatt die Wächterinnen sollten sie lieber Leute bezahlen, die putzen. "In einer Generation wird sich das geändert haben". Freundliches Geplauder, einige Zeit gehen wir in den gleichen Räumen, bewundern die wunderschöne Bibliothek, ein Traum von einer Bibliothek mit einer zweiten Ebene, die Bücher wohlverwahrt hinter Glasvitrinen, von oben bis unten Bücher, sicher 8 bis 10 Meter hoch. Mich drängt es zu den europäischen, den französischen Klassikern, so streife ich nur kurz den japanischen Raum, wo der Vater seinem kleinen Sohn die Schönheit japanischer Miniaturen zeigt.

Vielleicht sind es Missstimmungen in der Familie, aber als er und das Kind später die Treppe nach unten gehen, wir geradeaus, gibt es keinen freundlichen Blick zurück. Haben wir ihn verletzt mit unserem momentanen Desinteresse an asiatischer Kunst?

Oder die zwei Familien im Cafe Fellini, einer Design-Hommage an den Großmeister italienischer Filmkunst – wo Kinder beim Essen Filme anschauen können – leider keine Fellini-Filme. War es ein Flirt mit einer Frau in Daggis Rücken, der uns näherbrachte oder das einfache
Interesse am Anderen? Das gemeinsame Pasta-Essen?

Dann erzählt Daggi von einem Erlebnis mit mir, in Paris, wo sie sich schlecht fühlte, wo ich mich solidarisierte mit den anwesenden Männern, die in ihr die Alte sahen, die den Jungen aushält, den Gigolo.

Ich kann mich nicht erinnern, aber die Atmosphäre hat sich geändert, als wir gehen ist die Gruppe ablehnend in sich verschlossen.

Momentaufnahmen einer Reise nach St. Petersburg. Wir kommen in die Eremitage. Es wird mucksmäuschenstill. Der alte Mann behandelt uns wie Zaren.. Dann stellt Daggi fest, dass sie kein Bargeld hat und wir outen uns als Menschen, die Fehler machen, wie andere auch. Unfreundliches Anstossen vorbeigehender Menschen.

Es ist nicht mehr so einfach in ein einfaches russisches Restaurant zu gehen, wir mir unserem Wohlstandsoutfit werden unfreundlich behandelt, keine Freundlichkeit im Blick.

Nur die Händler, die uns als potentielle Kunden sehen, werden freundlich.

Können wir uns nur noch in den Bulthaup-Studios dieser Welt bewegen?

An der Zuckerbäckerkirche singt nachmittags eine alte Frau wunderschöne russische Lieder mit einer wunderschönen Stimme. Joni Mitchels Song fällt mir ein, von einem begnadeten Musiker, den niemand beachtet bei seinem Spiel an der Strassenecke, weil die Vorübergehenden wissen – er wird nie in einer TV-Show auftreten. Ich habe niemand gesehen, der ihr Geld gegeben hat – ausser uns. Aber auf unsere Gaben erfolgt wenig Zufriedenheit – auch der Junge der uns sein nacktes, verkrüppeltes Bein hinhält, damit seine Bettelsumme höher wird, ist unzufrieden über die nicht geringe Summe, die er von uns vor dem Gebäude des Kempinski-Hotels erhält.

Es ist viel Armut zu sehen und ich spüre etwas von der Obszönität des Reichtums, wenn ich im 6-fädigen Kaschmirpullover durch die Strassen gehe. Armut im kalten Russland ist wahrscheinlich bitterer als in Indien, aber in Indien habe ich auch Dankbarkeit für milde Gaben gesehen, ein Lächeln, das Lachen der Kinder. In Russland ist Armut ein alter Mann und er ist nicht freundlich.

Fehlt den Russen die Spiritualiät der Inder? Was macht die Differenz? Diese Woche wird Massimo einen Kongressbeitrag über Geschlechterdifferenz in Berkeley halten – oh sonniges California, du hast es besser.

Zum ersten mal bin ich in Russland gewesen. Als ich aus dem Flugzeug stieg, war ich versucht, die Erde zu küssen, Mütterchen Russland, so wie es der Papst tut, wenn er in ein fremdes Land kommt – oder wie – ich glaube, so war es, und wenn nicht, dann sollte es so gewesen sein –Solschenizyn, als er aus der Verbannung ins freie Russland zurückkam.

Wenig Gedanken an nazistische Barbarei, wenig Gedanken an stalinistischen Terror. Nur einmal, im Hotelshop ein Kartenspiel mit den Bildern der Kremlzaren – unter ihnen Stalin und bei der Abreise, im Hoteltaxi, Gedanken an die Schuld der Deutschen am russischen Drama des letzten Jahrhunderts.

St. Petersburg – dieses zu Stein gewordene Monument russischer Allmachtsphantasien ist in einem schlechten Zustand, es zerbröckelt und zerfällt, diese Kolosse zaristischer und militaristischer Grossmachtspolitik benötigen Geldmittel westlicher Konzerne, sonst lässt sich das Kulturdenkmal St. Petersburg nicht für die Menschen erhalten.

Nur die große katholische Kirche ist im Innern gepflegt – doch soviel Marienkult zu so viel Preis – mehr als die Eremitage mit ihren Matissebildern – die tanzenden Frauen waren gerade als Leihgabe bis zum Sommer in Rom – das war uns der russische Katholizismus nicht wert – da ist ja selbst Rom, das Rom der nach wie vor unfehlbaren Päpste, fremdenfreundlicher, dort darf der Besucher, der ja zufällig auch ein glaubender sein könnte, die Kirchen inklusive Petersdom besuchen ohne abgezockt zu werden.

Gerade hat Anders Hansen aus Christiania angerufen, auch er will dieses Jahr wieder ´gen Russia fahren, gerade macht er sein Auto fit und im Internet würde er gerne Reisepartner finden. Und bald kommt die 2000-Münze der Christianiter, die wir dann dieses Jahr vielleicht endlich in Christiania ausgeben können, es muss ja nicht mit der Homebase Kempinski sein – aber auch dagegen hätte ich nichts einzuwenden (Anders erzählte, in Russland haben Menschen ein russisches Christiania gegründet und ihre Schutzheiliger ist Frank Zappa). In diesem Sinne – im Jazzclub JFC sahen wir in der Pause Janis Joplin und die blinde Jazz-Legende Ray Charles am Klavier – Danke für dein Da-Sein (wie Anders gerade sagte) und Sarah Mc Lachlin singt: Good Enough.