DEB, 7/1979

Mädchen im Abendwind

Dieter Baumert. 26.08.1994

Über viele Monate hinweg
waren sie in den kleinen
Buch- und Umweltladen in
die Kirchstrasse gekommen.

Der kleine Laden im
alten verfallenen Haus
hatte etwas von einem
Hexenhäuschen, einem Raum
fernab der lärmenden
Zivilisation. Die vordere
Hausfassade war fast ganz verschwunden,
hinter grünem Knöterich.
Einmal im Jahr blühte
er ganz weiss, dann
lagen die Blüten wie
Schnee auf dem kleinen
Platz vor dem Laden.

Eine wilde japanische
Kirsche streckte ihre alten
Zweige schützend über
die Treppe zum kleinen
Haus.

Sie fühlten sich wohl in
dem kleinen Laden voller
Bücher, Pflanzen und
Zärtlichkeit. Die grosse runde
Theke in der Mitte des
Raums war aus Holzkisten
und Nut- und Federbrettern grob
gezimmert. An der Vorderseite
hingen Plakate, liebevolle
Werbebotschaften
für Bücher, die immer mehr
waren, als Warenanpreisungen.
Da sang Heinrich Böll das
Lob der Indianer, dort
ruhte der alte taoistische
Mönch im Frieden der Erkenntnis,
und da, in der Mitte, 
lachten die bunten frechen
nackten Frauen der Elvira Bach
die Beschauer an und
die Worte unterm Bild forderten auf zum Ungehorsam,
zur Eigenliebe – zur Menschenliebe,
zum aufrechten Gang der Frauen,
als dem witzigeren Geschlecht.

Bald wurden die Plakate
in schöne, grosse goldene
Alurahmen gepackt, die Theke
wurde immer klarer, der Farn 
verschwand, die Bestellkarte
wanderte unter die Theke bis 
am Schluss nur noch die Zigarren-
kiste da stand, die als
Deutschlands witzigste Buchhandels-
kasse in die Analen der
Frankfurter Buchhändlerschule
einging. Der hintere Teil der
Theke war erhöht, so dass man
im stehen gut schreiben konnte oder
in Ruhe im Buchhandelskatalog
blättern konnte. Unter diesem
Schreibbrett fanden die Mädchen
das Umweltschutzpapier, welches
sie für die Schule brauchten.

In einzelnen Stapeln lagen da
die Hefte, kleine und grosse,
mit Linien am Rand und ohne
Linien, karierte Hefte, auch sie
mit und ohne Randlinien,
auch sie im grossen A4-Format
und im kleinen A5. Dazu
bedrucktes Briefpapier, Bleistifte,
gelochte Blätter.

Es hatte etwas ganz eigenes
in diesem Laden einzukaufen.
Manchmal war im unteren Stockwerk
des dreistöckigen Ladens 
gar niemand, so konnten sie in
aller Stille ihre Hefte aussuchen.
Ab und zu kam ein
Ton durch die Deckenwand, ein
Lied, ein Lachen oder das Tippen
der Schreibmaschine. Eine Glocke
an der Türe war mit Gummis verbunden
mit der Türe. Je heftiger und je
weiter man die Türe öffnete, je lauter
schellte die Glocke, hallte lange nach,
dröhnte in der ganzen Gasse: „Aja,
Kundschaft im Lädeli“. Die leisten, zaghaften,
konnten auch ganz leise die Tür öffnen
so dass kein Ton erklang, der Glockenklöppel
nicht berührt wurde. Ab und zu machten
sich kleiner Jugendbanden vom benachbarten
Jugendtreffpunk dies zu Nutze und
drangen schnell in den Laden ein,
ein Griff in die Zigarrenkiste und
das Taschengeld für die Curry-Wurst
war wieder besorgt. Später wurde die
Kasse unter die Ladentheke gestellt, aber
auch hier reichte ein Griff unter die
Theke oder ein schnelles in den Theken-
Innenraum gehen und die buddhistische
Vertrautheit wurde belohnt durch
unchristliche Taten unreifer Bengel, die
vergessen hatten, wie man Armut und
Hilfsbereitschaft buchstabiert.

Die Mädchen kamen meist als Gruppe,
während einer Freistunde oder nach der
Schule zum Heftekauf. Manchmal kam
noch ein Aufkleber dazu, eine progressive
Kinderzeitung aus Hamburg oder ein
witziges Bücherzeichen der Buchhandlung.
Die Bücher drangen nicht zum Kaufen,
sie hatten Geduld, warteten auf
den Tag, wo diese Mädchen die Literatur
entdecken würden. Anna Seghers KZ-Geschichten oder
Maria Ossowskis Milieustudien, Anja Meulenbelts Katzengeschiche
oder Hesses Glasperlenspiel. Einmal
kam es vor, dass ihnen ihr Geschichtslehrer
im Laden begegnete, sie begrüssten sich
verwundert, erfreut, war er doch einer der
Lieblingslehrer der Schule.

Manchmal legten sie einfach das Geld
auf die Theke, weil sie den Händler
nicht stören wollten, vielleicht plante er
gerade wieder eine ökologische Aktion
oder vielleicht schrieb er gerade ein
Pamphlet gegen die Rheinverschmutzer.

Manchmal bestanden sie aber auf
seine Anwesenheit, wollten irgend-
ein kluge Wort, ein Lächeln,
Zuwendung oder einfach nur in
seine schönen Augen sehn.
Einer Bücheraktion im Frühjahr standen
sie mit Misstrauen gegenüber. Sie
wollten nicht, dass immer mehr
Bücher den Laden verstellen, dafür
aber immer weniger Kunden kamen. Ihr
Missfallen brachten sie sensibel, doch
deutlich zum Ausdruck.

Dann war Sommerzeit – Ferienzeit.
Die ganze Gruppe war verstreut,
mit ihren Eltern, mit Jugendgruppen,
mit Verwandten verbrachten sie die
sonnigen Tage des Sommers. Es 
war einer jener Sommer, die voller
Blau waren, in den Lüften lag ein
schöner Wind und strahlend-weisse
Wolken luden ein zum Verweilen in
der Veränderung.

Dann war wieder Schule und
noch einmal kamen sie als Gruppe.
Er spürte es sofort als sie kamen –
es war ihr Abschiedsbesuch.
Wie ein Erdbeben hatte die
Mädchen der Sommer gepackt –
sie waren Frauen geworden.
Wie ein kollektiver Eisprung war
dieser Sommer über sie gekommen,
das erste verflossene Blut ihrer
Scham hatte ihnen auch
die Unbeschwertheit ihrer Kind-
heit genommen, mit anderen
Augen sahen sie jetzt den alten
Laden, wo zwischen verstaubten
Büchern ein schöner Mann
mit langem dunklen Haar sich wie
im Traum gegen die Welt der
Atomkraftwerke, der
Chemieunfälle und der Boshaftigkeit
des Geldes wehrte.
Noch einmal flogen ihre Kinderaugen
über diesen Entwurf des anderen,
besseren Lebens, aber ihre
neugebildeten Erwachsenenaugen sagten
ihnen, dass die Zeit des Ladens
vorbei war, die Indianer müssen
weiterziehen. Liebevoll kauften sie
noch einmal als Gruppe der Freundinnen
ihre Hefte, jede nahm sich
Zeit zum kassieren, zum einpacken,
ein Blick, eine Berührung beim
Austausch der Geldmünzen – dann
waren sie weg, leise lachende
Stimmen drangen noch einmal an seine
Ohren. An diesem Tag wusste er,
dass die Zeit des Lädelis gezählt
war. Wenn ihn auch noch diese Kinder verliessen, dann
hatte der Laden sein Dasein – seine
Wesenheit verloren, es war Zeit die
Fensterläden zu schliessen, die Regale
auszuräumen, neuen Ufern entgegen.

Wenn jetzt die Mädchen kamen,
kamen sie immer nur noch
einzeln, vielleicht zur zweit mit
Freundin.

Einmal stand er an der Theke,
es war Sommer, die Knöpfe
seines Hemdes waren weit geöffnet
und so bot er beim Eintrag
des Umsatzes ins Umsatzbuch einen
tiefen Blick auf seine schöne
behaarte Brust bis tief zum
Bauchnabel. Das blonde Mädchen
holte wie in Zeitlupe das Geld
aus ihrer Schultasche auf dem Fussboden, bückte
sich lange und schenkte ihm so einen tiefen Blick in
ihr offenes Hemd, eine tiefen Blick auf ihren Körper,
auf ihren nackten Körper, der noch
den Hauch der Unschuld
der Kindheit in sich trug,
und der doch schon ganz
Instrument weiblicher
Hoffnungen, weiblichen Begehrens
geworden war, eingesetzt
wurde als tönende Melodie
im Dialog der Geschlechter.