DEB by Dagmar Perinelli

Wo warst Du, Adam?

Dieter Emil Baumert. 01. Mai 2003

© 2003 by VG WORT

Ich traf ihn auf dem Flughafen. Er musste weiter nach Miami, ich flog nach Hause. Auf einen Kaffee hatte er Zeit, den wir im Stehen tranken. Seine Hände zuckten nervös und sein Blick war gehetzt, die Augen gingen hin und her, wie ein Sensor suchten sie in seinem Blickfeld nach Gefahren – oder nach Kunden? Ich dachte, jetzt wäre toll, wenn er eine Fliege wäre, die hätte den vollen Überblick, sie könnte alles sehen, was um sie vorgeht.

Während er von seinen neuen Projekten erzählte, dachte ich zurück. An alte Tage. Wann hatten wir uns eigentlich kennen gelernt? War es im Hotzenwald? Er hatte vor Jahren mal gesagt, er könne sich genau erinnern, wie er vor einem Kittner-Kabarett-Abend Anfang der siebziger Jahre mich traf, ich mit einem Bauchladen mit Büchern. Damals war ich mir sicher, dass er sich täuschte. Es waren keine Bücher, sondern einen Briefumschlag mit verschiedenen Karten darin. Ich verschenkte sie, verteilte sie. In ihnen waren Aktivitätskarten meines sozialistischen Zentrums darin. Was das SZ so alles machte oder machen wollte: Concert-AG, Buchladen, Cinemathek und und und.

Wir hatten damals oft Kittner in die Region geholt, aber irgendwann ging mir seine DDR-Hörigkeit auf die Nerven. Heute lese ich ihn wieder mit Gewinn in Ossietzky. Ob mit dem Ende der DDR mein Osthass abgeschleift wurde oder seine Ostliebe? Ich weiss es nicht. Adam war jedenfalls in der Espede, natürlich bei den Jungsozialisten.

Dann ein paar Jahre später, ich war nach Lörrach gezogen, kamen wir natürlich wieder zusammen. Er der aktive Jungsozialist, ich der sozialistische Grüne oder alternative Bunte oder feministische Hippie oder wie soll ich mich nennen, in der Rückschau auf jene Tage in Lörrach. Meine neue Liebe begann hier, meine große Lebensliebe und Adam war auch da, natürlich in den großen Debatten ums Jugendzentrum, Kommunikationszentrum. Es ging um Berufsverbote und Nato-Nachrüstung, ging um eine soziale Veränderung im Kollektiv, um ein Öffnen neuer sozialer Räume.

Natürlich war er ein Leittier, ein Alphatier, er war der Boss und der Macker – allerdings gab es natürlich noch andere, wir waren schließlich alternativ und links, frei und anarchistisch. Keine Macht für niemand sang Rio Reiser und wir sangen mit. Keine Hausbesetzung, keine Demo ohne Adam. Und zuhause musste er noch mit den Altvorderen in der Sozialdemokratischen Partei streiten. Michel Christo, der alte Stadtrat war so ein Ursozialdemokrat, bieder bis unter die Unterhose, aber wen er mal als Sozialdemokrat anerkannt hatte, der durfte weit gehen und wurde immer vom Gevatter wieder aufgenommen. So gut ging’s mir mit den Sozialdemokraten in meinem schönen Säckingen nicht. Da vertrieb mich die Sozialdemokratie aus ihren heiligen Hallen und aus den Räumen des freien Jugendzentrums. „Von Ihnen, Herr Baumert, lass ich mir meinen Sozialismus nicht kaputt machen“ schrie mir empört der sozialdemokratische Gemeinderat, mein Fahrradreparateur zu, als er eine kommunistische Zeitung meines Freundes Thomas von der Informationstafel riss. Nicht, dass mir irgend etwas an dem Organ des Kommunistischen Bundes Westdeutschland lag, mit Kommunisten hatte ich immer Schwierigkeiten und mit den kleinen Stalinisten von KBW und KB und KPD erst recht – aber es ging um die Meinungsfreiheit, unsere Meinungsfreiheit. Bei uns, in unserem Jugendzentrum durfte jeder seine Zeitung aufhängen, seine Meinung, sein Bildchen, sein Glaubensbekenntnis. Aber es durfte nicht jemand dies abreißen und erst Recht nicht ein sozialdemokratischer Stadtrat, der uns als „wohlmeinender Jugendfreund“ im vereinseigenen Beirat aufgedrängt wurde.

Naja, das war schon ein paar Jahre her. Dann verkündete Wolfgang Pohrt oder war es Daniel Cohn Bendit oder gar Elisabeth Nölle-Neumann das Ende der Alternativen – Jahre später propagierte ein Japaner das Ende der Geschichte – und Adam zog es ins bewusstseinsverändernde Lager der Körpertherapeuten. Zusammen mit seiner Frau gründete er das Zentrum für soziales und individuelles Wachstum. Schnell fand die Szene ihre Urmutter in der nachreichschen Therapeutin Gerda. Hier durfte gestöhnt und geliebt, geschrien und geweint werden. Hier ging es dann, nach dem langen Weg nach außen in den noch längeren Weg nach innen. Und weil Adam diese Wege auch immer besonders intensiv ging, endete diese auch schon mal mit einer Faust im Rektum eines anderen Mannes oder dessen Faust im Rektum von Adam. Es war alles sehr intensiv und wir veränderten uns sehr.

Wir gingen zurück in den Mutterleib und erlebten die Geburt neu. Wo die Körpertherapie ihre Grenzen hatte, oder die Therapierten ihre Grenzen nicht überschreiten wollten, gab es noch immer die Wunderdroge der Therapeuten – die Liebesdroge Amore, die später dann zum festen Bestandteil in der Prostitutionsszene wurde und noch später auf jeder Technoparty zu finden war.

Ein Setting machten wir zusammen. Aber die Zeiten der Anarchie, des Kommunitarismus und des alternativen Lebens waren vorbei. Jetzt war es klar – Adam war der Chef und er ermöglichte uns einen Trip mit Amore. Jeder schrieb einen Bericht über seine Erfahrungen und wir lasen sie alle – nur Adam zeigte uns seinen Bericht nie.

Da hatte es wohl angefangen. Der Weg ins Innere hatte auch den kleinen Vampir hervorgebracht, der aus den Leben von Anderen sich Nährflüssigkeit holt. Dies ist, zugegeben, nicht sehr originell. Alle Männer, die meisten zumindestens, praktizieren es und besonders findige, wie Osho bringen es darin zur Perfektion. Dass es dann wieder im Faschismus endet, da wo es mit all dem freien vögeln, dem schönen Gestöhne anfing, all der schönen Offenheit, und am Schluss sind sie wieder da, die Waffen, die Wächter, die KZ-Schergen. Unter der Hand hat sich die schöne Kommunewelt in ein Konzentrationslager verwandelt (Oregon).

Mir ist dieser Ausflug in die Welt von Amore nicht nur gut bekommen. Es wurde für mich zu einer langen mystischen Reise, die dank meiner Liebesgefährtin nicht zu einer Reise ohne Wiederkehr wurde. Ich hörte die Gedanken der Menschen, ich spürte ihre Schmerzen und ich war so offen, wie es ein Mensch nicht länger sein kann. Da erkor der konkurrierende Buchhändlerkollege den Sinnspruch zum Motto der Lörracher Fastnacht: Wer nach allen Seiten offen ist, der ist nicht ganz dicht.

Wie er da saß, am silbernen Tresen, überkam mich ein warmes Gefühl von Zärtlichkeit. Immer war er mir vorgekommen, wie ein Bruder, so intensiv waren meine Gefühle ihm gegenüber. Und nie war da jener beißende, ätzende Ton meines leiblichen Bruders. Ja, natürlich setzten wir uns auseinander, stritten, fetzten uns. Aber nie mit solchen Verletzungen, wie bei meinem körperlichen Bruder. Vielleicht können das nur Familienangehörige. Jeder kennt jeden bis ins Mark, in die Gedärme. Und jeder kennt die Stelle, wo das Blatt lag, da, wo die schützende Quelle nicht half, da, wo der andere am meisten verletzlich ist, in letzter Konsequenz: tödlich verletzbar ist.

Irritiert schaute er mich an und lächelte. Er nahm mich in den Arm und wir waren wieder sehr miteinander verbunden. Dann änderte sich sein Gesichtsausdruck, es kam wieder die alte Härte zum Vorschein, die markanten Knochen seines Vaters, des Bauunternehmers und er war wieder im Leben des Schneller, Besser, Mehr.

Das ermöglichte mir wieder zurückzuschauen.
Die kleine Welt des badischen Städtchens war ihnen bald zu klein geworden, Deutschland, Europa, Amerika stand auf den Bordkarten. Neue, wichtigere Führer kamen dazu, Familientherapeuten, Trainer, Einpeitscher der Massen. Wie war Adam fasziniert, wenn einer dieser Gurus einen Saal von drei-, vier- oder gar fünftausend von Anhängern im Griff hatte. Ich hatte Erwin Leisners Hitlerfilm in der Cinemathek im unabhängigen Säckinger Jugendzentrum gezeigt und gesehen – mir brauchte man nichts von der Faszination der Massen erzählen, ihrer Verführbarkeit, ihrer Blendsucht. Masse und Macht hatte der alte Hebelfreund Elias Canetti dies genannt. Ja, so was wollte Adam auch – die Massen bezirzen, für das Gute, Wahre gewinnen. Und wenn er dann wieder nach Hause kam und mit den zurückgebliebenen sprach, dann wandte er sich gequält ab, bemitleidete sie: sie waren in ihrer alten Welt stehen geblieben, träumten noch von sozialer Veränderung, waren gefangen in ihrem Alltag. Sie hätten nur einen Schritt machen müssen, Adam hätte sie aufgenommen, hätte sie den Putzlappen führen lassen, sie hätten sein Büro aufräumen dürfen und wären aufgenommen worden in den Orden Tempis Adamis.

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