DEB, 7/1979

Auberge Marianne

Von Dieter Emil Baumert
02. März 1993

Fassung vom
24. April 1996
nach Korrektur durch
Elisabeth Alexander

Sie waren müde und abgespannt. Die Reise war lang und anstrengend gewesen, der Bus hatte sie zuletzt hin- und hergeschüttelt, ihr Innerstes durcheinandergewirbelt, in tausend Stücke, Einzelteile wirbelten umher, die Gedanken folgten keinen klaren Mustern mehr, sie hefteten sich an die umherwirbelnden Stücke, wirbelten durch die Luft. Erst als der Bus langsamer fuhr, anhielt, zogen sie sich alle wieder zusammen, setzten sich an die Teile im Körper, ergaben einen neuen Körper, einer, der dem alten glich, vielleicht war es noch der alte, jetzt rausche es nur noch, begleitet vom Hämmern des Herzens, bumm, bumm, bumm, bumm machte es gleichmässig, rhythmisch.

Sie stiegen in einem Dörfchen aus, nahe dem Meer. Ein wunderbarer Duft nach thymiangebratenem Fleisch drang in ihre Nasen, betörte ihre Sinne. Eine alte Kneipe in einem einstöckigen Gebäude stand am Strassenrand, von dort kam der Duft. An einem Holztresen standen alte Männer vor halbleeren Pastis- und Weingläsern und vor kleinen Kaffeetassen. Aus der Küche im hinteren Raum klirrten Gläsertöne, eine Frau schrie etwas, das zwischen Analerotik und Glühwürmchen lag – die Männer lachten.

Sie standen vor der Tür, aber die Trägheit des Fahrens lag noch auf ihren Körpern, und dumpf wanderten sie weiter, die kleine Strasse des Dorfes entlang, hin zum Meer. Es war Ebbe und lang zog sich die klebrige Masse des Schlicks bis zum Horizont. Der Wind hatte sich zur Ruhe gelegt. Eine Gruppe von Mädchen kam kichernd aus einer Hauseinfahrt, bog in ein kleines Gässchen, verschwand. Der Hall ihres Lachens drang an ihren Ohren, durchdrang ihre Müdigkeit, befreite die Sehnsucht.

Zwei ältere Frauen auf der Strasse wiesen ihnen den Weg: „Ja, geradeaus, dann links und dann nach zwanzig Metern sehen Sie links das Restaurant. Da werden Sie ein Zimmer finden, Madame und Monsieur“. „Merci Mesdames, Au revoir“. Abseits vom Trubel der Strasse stand das kleine, zweistöckige Gasthaus. Hinter den Gardinen und dem Schild „Hotel“ auf der Glastür sahen sie noch Licht, mit ihren Reisetaschen in den Händen traten sie ein. Drei Frauen blickten empor, ihnen entgegen, lächelten, fragten, was sie für sie tun könnten. „Wir suchen ein Zimmer für die Nacht, Madame“. „Oh, Verzeihung, das ist schade, wir sind belegt, wissen Sie, noch ist Feriensaison, bis Sonntag. Dann wird es hier wieder ruhig.“ Die älteste hatte diese gesagt, es war die Mutter der beiden anderen, jüngeren Frauen, wie sie unschwer erkannten.

Aber sie wollten sie nicht so ziehen lassen, zogen das Telefon zu sich heran, suchten im Telefonbuch die Namen und die Nummern der anderen Pensionen, fanden sie, riefen an und waren mit den Gästen glücklich, dass diese ein Bett für die Nacht fanden. „Kommen Sie“ sagte die älteste der beiden Schwestern, mit langem dunklen Haar und einem verschmitzten Lächeln: „Ich fahre sie dorthin.“ Judith fragte: „Was sind wir Ihnen schuldig, Madame?“ „Ach nichts“ und ihre charmante Chauffeurin ergänzt: „Kommen Sie doch mal zum Essen, unsere Küche ist sehr gut.“ „Ja, das werden wir tun, vielen Dank, Madame.“

Nach einer Woche am Meer, voller Erholung und Liebe – die Zeit ist stehen geblieben – waren es drei Tage oder drei Wochen, nach einem höllischen Sonnenbrand, wunderbaren Planscherlebnissen im Salzwasser, nach Sandburgen und Strandspaziergängen, nach Abenden voller Lyrik und Poesie, nach Rotwein und Baguette, nach Käse und starkem Kaffee, kommen sie wieder ins kleine Restaurant.

Es ist Mittag, an der Theke stehen Männer, Arbeitsmänner, Kaffe und Pastis trinkend, laut, plaudernd, sich erregend. Der Fischfang war schlecht gewesen, die Steuern wurden schon erhöht, die Frau des Bäckers war noch immer verschwunden. Die Frauen waren wieder da, lachten erfreut, sie zu sehen, brachten die Speisekarte. „Bringen Sie uns je einmal das Menü eins und das Menü zwei, für jeden von uns die Hälfte.“ „Gerne, hatten Sie schöne Tage am Meer?“ „Ja, es war herrlich, der Atlantik ruhte mild an unserer Seite“. Sie blieben im Vorderraum, zogen sich nicht in den vornehmen Speiseraum zurück, ließen sich von den Worten umspülen, wie sie es am Meer sitzend mit den Wellen gemacht hatten. Das wurde von den Anwesenden wohlwollend aufgenommen, es wurde ihnen zugeprostet und einen guten Appetit gewünscht. Das Mahl begann mit Muscheln, mmh, eine ganz große Schüssel. Genüsslich öffnete sie die Schalen, zogen gierig mit ihren Mündern das Fleisch aus ihrem Schutzhaus, tunkten genießerisch das Weißbrot in die Sauce voller Olivenöl, Knoblauch und Weißwein. Judiths weißen Haar glänzte, sie strahlte ihn an, und sie waren glücklich.

Am Nebentisch hatten sich neue Gäste dazugesellt, sie aßen auch etwas, lachten und klirrten mit den Gläsern. Das Essen war gut, der kulinarische Höhepunkt dieser Tage, kleine Entenbrüstchen verschwanden in ihrem Magen, kühler Rosé kühlte ihre Gaumen und ein kaltes Parfait wurde vom süßheißen Espresso im Körper umschlossen.

Sie hatten im Laufe des Essen gefragt, ob sie heute ein Zimmer hätten und zufrieden wurde ihnen das bejaht. Die Kneipe leerte sich, auch sie wurden verabschiedet, ein kurzer Gruß, ein Winken, ein Lächeln.

Die Frauen der Kneipe verschwanden ab und zu in der Küche, jetzt aßen sie dort ihr Mittagessen. Das mehrgängige Menü hatte sie beide schläfrig gemacht, es drängte sie ins Bett. Aber wie magisch verstanden die Frauen den Termin hinauszuschieben, den Zeitpunkt des Aufbruchs ins Bett zu verzögern. Wie eifersüchtige Geliebte strichen sie umher, wollten lieber, dass die Gäste gehen, ans Meer, in die Stadt, oder dass sie auf den Stühlen einschliefen, als dass sie jetzt, in ihrem Haus, in ihr Bett gingen. Durch das glückliche Paar war plötzlich die Abwesenheit der Männer bewusst geworden, hatte sich, erst wie ein leises Lächeln, dann wie ein bedrohliche Brummen über sie gelegt, war in die Ritzen des Hauses gedrungen, hatte sich auf die Tischdecken der kleinen Gästetische gelegt. Bis an die Grenzen der Unhöflichkeit wurde die Zeit ausgedehnt, ein Aperitif ausgegeben, ein Teller fiel, zerbrach aber nicht.

Dann war der Kampf beendet, Mutter und Tochter hatten sich wieder gefangen, die ältere der Schwestern kam – verhüllt von einer Aura von Zärtlichkeit und Trauer – zu kassieren, die Mutter führte sie kurz darauf in ihr Zimmer.

Am nächsten Morgen, früh, alles schlief noch, weckte sie der Wecker, sie mussten zum Bus, schweigend und ohne Gruß verließen sie die Auberge Marianne.