DEB, 7/1979

Indische Reisenotizen

reloaded: 23. März 1996

Lieber Lucius,

Sie haben mich gebeten, meine indischen Reisenotizen für Sie und Ihre Leser zu rekonstruieren. Dies fällt mir fünf bzw. sechs Jahre nach den indischen Reisen schwer, schwerer als ich es gedacht habe. Damals habe ich die Notizen des gerade erlebten sofort niedergeschrieben und sie an Freundinnen und Freunde als Briefe verschickt, ohne davon Doppel anzufertigen, doch bei der Wegwerfmentalität der meisten meiner Freundinnen, gelang mir das nicht – sie werden mein Grinsen bemerkt haben, all die schönen Erinnerungen, des alltäglich-banalen sind verschwunden, schon längst Kompost geworden für die Geschichten der Gegenwart, der Geschichten der Zukunft, und ich kann das Grinsen des weisen Kobolds nicht beiseite lasen, ohne dass ich auch anfange zu lächeln, zu schmunzeln, zu grinsen um dann herzhaft zu lachen, lachen, lachen.

Was ist geblieben davon, welche Erinnerungen haben sich eingeprägt, haben das Leben des Damals eingemeißelt, um ein wenig länger zu halten, vielleicht bis zum nächsten sauren Regen, oder bis zum nächsten Tschernobyl, oder hiess es Bophal, oder Berg Karrabach, bis dann die Gesichter der Ogoni, der Nubas und all der Anderen geschundenen Kreatur ihr Gesicht verliert, wie es heute jene modernen Videofotokünstler tun, die Gesichter verschwinden lasen, bis alles zu einer gesichtslosen Maske wird, Symbol des modernen Massenmenschen.

Es ist nicht viel geblieben von jenen Monaten auf dem indischen Kontinent, nur wenig, aber dieses wenige so viel, so intensiv, wie das Lächeln am Morgen.

Ja, das Lächeln, es ist geblieben. Dieses Strahlen der Frauen, die Freundlichkeit der Männer, die Tiefe des Blicks der Kinder. Alles verklärt sich zur berauschenden Farbigkeit des Sein, wobei doch in „Wirklichkeit“ der Slum gerade nebenan lag, die Luft voll war von Gestank, die Nacht die Ruhe nur als Fremdwort kannte, in den Städten von Indien.

Und doch ist es da, tief in mir, diese indische Gelassenheit, dieses sich treiben lassen im Fluss der Zeit, keinen Widerstand mehr leisten, eins sein mit dem ewig kosmischen Strom, den Zeiten. Welches Bild könnte dies besser beschreiben, wie die Gates von Varanasi, am frühen Morgen, die Stufen voller Pilger, die sich im Morgenlicht die heiligen Wasser des Flusses überkippen, in den Fluss eintauchen, bis der soviel Selbstreinigungskraft besass, dass er all die Toten, die Körper, die Kadaver aufnahm um sie zu reinigen, in sich einzusaugen, um danach wieder klar zu sein, gereinigt, heilig. Die Inder haben sich daran zu sehr gewöhnt, an die Heiligkeit des Seins, dass sie unachtsam wurden, immer mehr Dreck wanderte in den grossen Fluss, der jetzt nicht mehr alles schluckt, der aufbegehrt, der sagt. Mensch, halte ein, halte ein mit der Zerstörung Deiner Lebensgrundlangen, fahre nicht fort mit dem Wahnsinn Deiner Selbstverblendung. Kehre um.

An jenem Morgen ist viel Leben in den Gats, fast hätte ich Souks geschrieben, doch da war ein andermal, ein anderer Kontinent, mindestens ebenso alt wie dieser indische, arische, und auch dort am Morgen gehört die Stadt noch den Einheimischen, wird nicht bevölkert, belagert von der grausamen Masse der Touristen, die einfallen wie die Fliegen, mit ihren kurzen Hosen, ihren prallen Bäuchen, vor denen immer eine Kamera hängt, der Wurmfortsatz der Moderne, bald werden sie Bildschirme in ihren Sonnenbrillen haben und dann werden sie NTV live empfangen können, während sie an den realen Menschen vorbeiziehen, sie anrempeln, ohne um Entschuldigung zu bitten, die Unreinen entschuldigen sich nicht, dass sie die Reinen beschmutzt haben.

Doch die Morgen in Varanasi gehören noch den Hindus. Hier wird gelebt und geliebt, Gott und die Welt, all die Götter des indischen Subkontinents, hier sind sie da und kaum ein Tourist stört die Zeremonien, die so alt sind, wie unsere Geschichte. Da springen schwarze Delphine auf, Flussdelphine begrüssen uns, auf den Wassern des Ganges treiben wir im alten Holzboot, wir dürfen ein wenig Wasser mitnehmen, später biete ich dies der basellandschaftlichen Kunstförderung als Aktion an, wir bringen heiliges Wasser aus Benares, verteilen es hier im Dreyeckland an Menschen, die bei uns Asyl suchen, Zuflucht, doch so kurz nach Auschwitz ist auch in der Schweiz das Boot voll, da stolze Nicht-EG-Land Schweiz hat sich längst der Festung Europas angeschlossen, das funktioniert auch ohne Euro, die Kunstförderung bleibt lieber beim Weihrauch für Sandoz, ok, jedem seine Heiligkeit.

Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich echte tote Menschen, die verbrannt werden. Auf grossen Scheiterhaufen liegen sie eingepackt und langsam verbrennt das Feuer die Tücher, dann die Haut, ab und an fliegt mal ein Arm herunter, der dann von den Verbrennern mit einem Stock wieder aufs Feuer gelegt wird. Es ist ein süsslicher Geruch von verbranntem Menschenfleisch und hier fehlt ihm die Gewalt der deutschen Arier, wie sie einst in Bergen Belsen und in Treblinka die Besten unseres Volkes vergasten und danach verbrannten. Hier ist es das Frei machen, das Sich befreien, Body and Soul sind nicht mehr eins, der Körper, das alte Fahrzeug „gab den Geist auf“, was jetzt da liegt, ist Materie, der Geist sieht schon von oben zu, kein verstecken des Todes, sondern alltägliche Anwesenheit, das Ende war schon immer im Anfang und in jedem Anfang ist auch das Ende verzeichnet, welches wiederum nur ein Anfang ist, das ewige Pandarei des Lebens.

Was gäbe es alles noch zu erzählen, von Benares, dass wir weder Vikash Maharay begegnet sind, jenem Musiker aus dieser Stadt (dafür später wieder in Lörrach im schönen Rosenfelspark), dass der grosse Sitarspieler aus eben dieser heiligen Stadt der Hindus nicht mehr öffentlich auftritt, seitdem die Fundamentalisten aller Religionen Indien in einen Bürgerkrieg ziehen, dessen Ende so schrecklich sein wird, wie sein Anfang. Er wurde im Frühjahr 1996 auf dem World Economic Forum in Davon für sein Lebenswerk geeehrt – der grosse Ravi Shankar.

Ich schrieb Ihnen dies bereits einmal, dieses wunderbare Erlebnis, das es diese ewig schreienden, quengelnden Kinder des Westens in Indien nicht gibt. Klar, werden Sie sagen, wir sind ja in Indien auch nicht im Westen. Was natürlich stimmt, weil, wenn wir von Lörrach nach Westen gehen (fliegen wäre richtiger), dann landen wir auch in Indien, ein Bonmot gewiss, aber nicht ohne Wahrheit. Ich will nicht das Leben der dortigen Kinder zum schönsten dieser Welt hochstilisieren, gewiss nicht. Dafür sah ich all ihr Elend, die Armut, in der sie leben, sah ihre Hautkrankheiten, sah die vielen Kinder, die nach wie vor verstümmelt werden, weil sie als verstümmelte Bettler in der Hierarchie der Unterprivilegierten nicht mehr auf dem untersten Treppchen fahren, mit ihren Beinstummeln, auf dem Brett mit den vier Rädern, Handantrieb, Endpunkt Sehnsucht. Diese indischen Augen dieser indischen Kinder sind voller Weisheit, sie haben mit ihren wenigen Jahren alles Leid dieser Welt schon gesehen, doch lachend, im Spiel mit Anderen gehen sie darüber hinweg, das Leben ist jetzt, sei glücklich. Es klingt wie eine der falschen Werbebotschaften dieser Welt, und doch ist der Unterschied zwischen Deutschland und Indien enorm. Jedes Kind ist natürlich das Kind seiner Gesellschaft und als solches nur begrenzt verantwortlich für die Umgebungstemperatur, in der es heranwächst, für die „Ausführungsbestimmungen“ seiner Sozialisation. Aber im Ländervergleich Indien – Deutschland machen die deutschen Kinder nur wenig Pluspunkte. Hier hat das Kind des ärmsten Sozialhilfeempfängers ein vielfaches von dem normaler indischer Kinder und die die Sozialhilfeempfänger bestimmen weiss Gott nicht das Bild der modernen deutschen Gesellschaft. Anders in Indien. Hier ist Armut Alltag, gleich nebenan ist auch der luxuriöseste Reichtum zu sehen, aber betteln ist erlaubt, ist Bestandteil des Sozialversicherungssystems und kirchlich gesegnet. Der Sadhu an der Ecke könnte Dein Vater sein, dem Bettler dem Du die Rupie reichst Jesus Christus. Doch die materielle Begütertheit all dieser Menschen hier macht sie nicht glücklicher.

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