DEB by Dagmar Perinelli

Baumert im Dreyeckland unterwegs

Nachtrag 5. August 2010-08-05

Die Anmerkungen aus dem letzten Jahr sind unvollständig. Sie enden da, wo es unangenehm wurde, wo ich Bemerkungen machen sollte, die ich nicht aussprechen wollte und so brach ich das schreiben ab. Aber es gilt des Chronisten Pflicht nicht zu lügen. Und wo will ich denn, aus der Erinnerung und leicht abgestanden, einiges anfügen.

Ich sehe Uschi und ich erschrecke. Eine kleine alte Frau. Jahre habe ich sie nicht mehr gesehen und ihre Krankheit hat sie völlig verändert. Doch die Herzlichkeit ist geblieben und ich freue mich sie zu sehen. Wir verabreden uns zum Frühstück bei ihr am nächsten Morgen und bei ihr treffe ich dann wieder die alte Uschi, die nicht vierzig Jahre älter scheint, als sie ist. Ein schönes Frühstück, auch wenn ich mitgebrachte Brezeln mit Butter lieber esse, als ihre dargebotenen Köstlichkeiten.

Die Laugenbrezel steht für mich für die ganze badische Küche. So sehr ich die Backwaren der vielen apulischen Bäcker schätze, die es hier noch in jedem Dorf mehrfach gibt. Auch wenn hier die Discounter vordringen, die Lidls und die anderen – noch sind sie ebenso wie die Metzger überall zu finden und nicht die seltsamen Backboutiquen, die sich auch im schönen Badnerland breit machen mit ihrer Fabrikbackware. Auch wenn die besten Brezelbäcker aus Stetten und Lörrach nicht mehr zu finden sind, weil sie ihre Backstuben schon vor Jahren geschlossen haben – immerhin gibt es da und dort noch eine Bäckerei. Wie die Bäckerei Jung in Lörrachs Innenstadt oder die Bäckerei Schmidt in Bad Säckingens Innenstadt (siehe mein Lob: Das Bürle oder wie ich Säckingen lieben lernte)

Mit Ingrid besuche ich in dieser Woche die große Venedig-Ausstellung im Bayeler in Riehen. Es ist fast wie früher, als Mittwochs die Geschäfte in der Schweiz voller Deutscher war und die Schweizer sagten: Es ist Schwabentag. Die Ausstellung ist überfüllt, es ist einer der letzten Tage dieser Ausstellung. Wir begegnen unserer alten Freundin Angelika und auch hier erschrecke ich über den ersten Eindruck. Sie hebt ihren linken Arm fest, als müsste sie ihm verbieten, mich zu grüßen, zu umarmen und macht so einen Eindruck einer körperlich Behinderten. Sie sagt „immer wenn ihr alles zu viel werde und sie Tage der Einkehr benötige, gehe sie nach Venedig“ und ich bin verletzt und denke „Warum kommt sie nicht zu uns?“. Wir verabschieden uns und ziehen weiter. Ingrid will noch in den Rahmenladen von Meister Bohn. Für die Schule möchte sie die Abschlussarbeit ihrer Klasse schön rahmen lassen und sie lässt sich fachkundig vom innovativen Unternehmer beraten, während ich mir die ausgestellten Bilder anschaue. Auf der Arbeitsfläche liegt ein vergrößerte Breitwandphoto einer Bucht auf Elba. Der Auftraggeber ist einer meiner ehemaligen Zahnärzte aus Lörrach. Offensichtlich hat er inzwischen an jener Bucht ein Häuschen für die Ferien erstanden. Dagmars und meine erste gemeinsamen Ferien waren Pfingsten 1979 in Elba.

Im jüdischen Veranstaltungskalender der Stadt lese ich über die Veranstaltung in der neuen Synagoge. Die Veranstaltung ist nur für geladene Gäste und ich bereue, nicht geladen zu sein. Ich denke an unsere Initiative Ausstellung zur Reichspogromnacht von 1989 und an die Eröffnung des Synagogengässchens auf dem Marktplatz. Gut, dass jüdisches Leben in der Stadt wieder einen Platz hat, jüdischer Glaube wieder einen Ort hat. Wenige Meter entfernt von der Schande der Nazis, die die Synagoge 1938 schändeten und einige Zeit danach die Juden der Stadt zusammentrieben und vom Marktplatz aus in der unseligen Robert Wagner-Aktion nach Gurs in die Gefangenschaft und danach in den Tod im Konzentrationslager schickten. (Photos hierzu auf der der Webseite der Stadt Lörrach).

Beim Schallplattenhändler Jochen kaufe ich im Sounds ein Kassettengerät. Jochen bringt es mir am Abend, zusammen mit erstandener Wurst vom Markt und Tee von Benny, der natürlich wieder einmal nicht im Laden ist, nach Hause und Thomas kommentiert dies mit der Bemerkung „Das ist ja der Hammer. Manche lassen sich einfach bedienen“. Ja, die Servicewüste Deutschland ist in das Denken der Menschen einwandert und fühlt sich gut. Aber der Mann, der Service leistet fühlt sich glücklicherweise auch gut und hat kein schlechtes Gewissen, dass er einem alten Kunden etwas in’s Haus bringt. Gerne erinnere ich mich an ihn, wie er die Single von Beuys verkaufte: „Sonne statt Reagan“, erfreue mich immer noch an seiner Liebe zur Schallplatte und denke an ihn, als einer der ehemaligen DDR-Bürger, die in Lörrach heimisch geworden sind und auch als Citoyen angekommen sind, aktiv in Parteien wie einst Thorald bei den Grünen (Conrad beschuldigte ihn, den kritischen Bürger, vielleicht ein Stasi-Mann zu sein, weil die kritischen Ex-Bürger aus der DDR sich nicht so duckmäuserisch verhielten, wie es der Obergrüne gerne gehabt hätte), oder bei Amnesty.

Der Weg nach Säckingen bleibt dieses mal unbefahren. Ich merke, dass trotz schneller S-Bahn es schwierig ist die Region zu bereisen ohne Auto. Da erkenne ich, wie sehr ich ein Cityhopper geworden bin und erinnere mich an die Zeit, als ich mit dem Auto das Dreyeckland bereiste. Ein Baguette im Elsass kaufen, dazu einen schönen Ziegenkäse, in Säckingen ein paar Bürle, auf dem Hotzenwald einen Wustsalat essen, bei Wilfried im Buchladen in Rheinfelden reinschauen oder bei Kurt im schweizerischen Rheinfelden neue Kunst erstehen. All das einfach mit eigenen vier Rädern. Mit Bus und Bahn wird alles aber zu einer trägen Reise. Dann rufe ich Marco an und sage ihm, dass ich es heute wahrscheinlich nicht schaffe, zu ihm zu kommen. Da sagte er „Ach, das ist heute. Das habe ich ganz vergessen“. Hicks, ich schlucke. Ja, so wichtig war das dann doch nicht. Und er ergänzt freundlich: „Du bist ja nicht aus der Welt. Sehen wir uns ein anderes mal.“. Ja so ist es, so wird es sein.

Bei meinen Gastgebern ist es schön und sie freundlich. Aber sie weben mich ein in ihren Alltag und so schaffe ich es nicht, all das zu tun, was ich machen wollte. Aber einiges gelingt doch: ein Auto kaufen, die Haare beim jungen Friseur am Zoll schneiden zu lassen („welch seltener Gast, der Italiener“), mit der Familie gemeinsam kochen und essen, auch mit der Mutter von Thomas, die jetzt im Nachbarhaus einzieht. Am Freitag besuche ich Maja und deren Tochter Sara in Grenzach-Wyhlen und wir gehen in Herten chinesisch essen. Und am Montag besuche ich noch Christian in seinem neuen Haus in Stetten, ein liebevoll gestaltetes neues Haus mit modernster Oekotechnik, dass es eine Freude ist. Leider versäume ich es in der Stadt Brezel zu kaufen. Mit der Tram fahre ich noch nach Riehen, kaufe für Dagmar eine Walwurzsalbe in der Apotheke und genieße die gemächliche Art der Fortbewegung durch die Tram. Am Mittag lerne ich noch kurz den Vater von Beate kennen. Es wird die einzige Begegnung mit ihm werden, Monate später wird er gestorben sein.

Dann mit der S-Bahn nach Basel, direkt in den umgebauten Bahnhof SBB. Welch angenehmes Reisen. Der Zug in den Süden wartet schon und so endet eine Woche mit neuem Ausweis, von Zahnarzt Norbert betreuten Zähnen (eine Betreuung war zu heftig, die entfernte Füllung bringt den Backenzahn zum Wackeln, obwohl er vor der zahnärztlichen Behandlung fest war, nur ein wenig eckig, anderthalb Jahre später lasse ich ihn vom italienischen Dentista ziehen). Auf der Herreise hatte ich die Zeit in Mailand in der kleinen Bahnhofskapelle verbracht im Kreis der Gläubigen. Im vollbesetzten Nahverkehrszug in die Schweiz bewunderte ich die wunderbar klare Aussprache einer Kinderbetreuerin, wunderbares Deutsch und war so erfreut, dass ein Mensch noch so sprechen kann. Ich dankte den Beiden mit einem freundlichen Lächeln, aber eigentlich wollte ich ihnen mit Worten danken. In Basel half ich einer asiatischen Frau ihren Kinderwagen aus dem Zug zu hieven, so wie mir dann später im Zug ein junger Mann helfen wollte, meinen Seesack nach oben zu hieven. Ich lehnte aber die Hilfe dankend ab: „Ach nein, ich muss die dann ja wieder runterholen“. Ein Traum in Apulien riet mir noch Roland in Stetten zu besuchen, aber ich schaffte es nicht und er drückte gegenüber Norbert sein Bedauern aus. „ich hätte ihn gerne gesehen“. Was kann der Mann mehr wünschen? Die Zeit als mir die Frauen zu Füssen lagen ist vielleicht vorbei. Aber liege ich denn heutzutage noch zu ihren Füssen?

06. Agosto 2010:

Und noch ist nicht alles gesagt. So manche Begegnung soll nicht unerwähnt bleiben. Unserem einstigen Mitbewohner, Mitladeninhaber und Mitzeitungsmacher Klaus begegne ich vor dem Stand des Maronimannes. Es ist nicht mehr der Freund des Zen und der Malerei, sondern wieder ein italienischstämmiger junger Mann, der den Mut bewundert, heute nach Süditalien zu ziehen. Der Stand ist auch der Anlaufpunkt der alten italienischen Männer. Klaus lebt nach wie vor mit seinem Antiquariat in der Ungewissheit. Jederzeit kann das Haus abgerissen werden, Teil einer innerstädtischen Sanierungsmassnahme werden. „Vielleicht wirst Du ja als Kulturdenkmal anerkannt“ mache ich ihm Mut. Gerne würde er mehr nach Norden ziehen, ein großer freistehender Laden ist schon ausgekuckt. Dies würde ihn in die Nähe der kulturinteressierten Bankangestellten bringen. Doch es ist natürlich eine Frage des Mietpreises. Als ich ihm sage „Kuck mal bei uns rin“ entgegnet er „Wir sind in den Ferien ja nach Nordeuropa orientiert. Wir fahren immer nach Schweden“. So wird es denn wohl auf lange Zeit keine Begegnung im Süden geben, auch keine der alten Wohngemeinschaftsmitglieder Paul, Beate, Klaus, Dagmar und Dieter.

Vor dem Bahnhof treffe ich den Leiter der Kinder- und Jugendberatungsstelle. Er lässt Dagmar grüßen, sagt, dass er demnächst auch in Rente ginge und vermutet, dass das Leben im Süden einfacher sei. Wenn er sich da mal nicht täuscht.

Die Buchhandlung Müller in Weil hat ihren Laden erweitert. Jetzt ist auch im Erdgeschoss Buchhandlung. Mich mutete es all die Jahre eher befremdlich an, erst durch ein Unterwäschegeschäft, sozusagen eine Miederwarenhandlung zu gehen, um die Buchhandlung zu erreichen. Aber vielleicht war das gar nicht so falsch. Erst kommt der Körper und seine Bedürfnisse und erst danach der Geist. Wie ließe sich das besser ausdrücken als in dieser unkonventionellen Mischung. Höchstens eine große Küche, das wäre auch nach meinem Gusto – auch hier wird für den Körper Nahrung geboten, wie in der Geistestankstelle Stoff für Geist und Seele. Die BILD im Zeitungsständer hält mich davon ab, den Laden zu betreten. Doch vor kurzem las ich, dass diese Buchhandlung nun eine Verkaufsstation der wunderbaren gewerkschaftlichen Büchergilde geworden ist. Vor einem viertel Jahrhundert bemühte ich mich darum, dass unser Lädeli die Lörracher Station wird – vergeblich. Auch in der Lörracher Buchhandelsszene hat sich erfreuliches getan. Waren wir mit unserer Alternativbuchhandlung Mitte der Achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts die einzigen, die Wagenbachbücher führten, so gehören heute beide groß Buchhandlungen – Lutz und Maurath – zu den Wagenbachverkaufsstellen.

Mein Bang und Olufsen-Händler ist leider nicht mehr da. Der hilfsbereite und kommunikative Verkäufer hat in einem anderen Lörracher Hifi-Geschäft eine Anstellung gefunden. Aber als Kommunikationspartner im Netz fehlt er mir. Sein ehemaliger Waldshuter Chef könnte sich von ihm jene Scheibe abschneiden, die ich mir in Form eines Schwarzwälder Schinkens vom Metzger Bieg abschneiden lasse. Monatelang hatte ich mit gefragt, ob es ihn noch gäbe, sowohl Dagmar, als auch Ingrid hatten behauptet, seinen Stand gäbe es nicht mehr auf dem Lörracher Wochenmarkt. Doch ein hilfreicher Traum beruhigte mich und vor Ort konnte ich selbst wieder eintauchen in die Welt der Leberwürste, Schwarzwürste und der Schinken. Nur auf des Metzgers klassisches „unddenno“ musste ich dieses Mal verzichten. Vor dem Marktstand versuchten junge Hochdeutsche sich dem alemannischen zu nähern und ich spürte den Respekt vor der Kultur dieses Sonnenlandes verbunden, natürlich, mit der Unsicherheit sich in fremden Sprachräumen zu bewegen. Teehändler Benny ist nun umgezogen in die ehemalige Apotheke. Es liegt nahe für den Sohn des Apothekers. Aber die Wildheit, das Anarchische, das Orientalische des alten Ladens in der Passage ist verloren gegangen, das dicht gedrängte, zusammengestellte, der Duft der Tees und der Kräuter, der tiefe Zugang in den Keller. All das fehlt nun. Das Leben nimmt die Richtung Boutique, Brotbotique, Teebotique, Weinboutique. Seltsam. Schon in den Siebzigern und Achtzigern begegnete ich nur wenig Deutschen im italienischen Lebensmittelladen des Signore Nocera. Dabei war hier der Parmaschinken nur halb so teuer wie im nahe gelegenen Mikro, der Parmigiano Reggiano war mindestens so gut wie im Delikatessengeschäft. Aber es fehlte dem deutschen Italienurlauber offensichtlich das Flair, zu sehr erinnerte der Laden an ein Lager. Komisch – bei den Gebrüdern Albrecht hatten die deutschen Konsumenten damit keine Probleme.

Der befreundete Anwalt rief nicht an. Der Besuch in dem neuen Porschezentrum, zusammen mit Ingrid, brachte leider mein verlorenes B&O-Earset nicht zu Tage. Frau Ingrid sagte mäkelig „ich würde mir auch keinen Porsche kaufen“ und so verpasste wir eine Probefahrt mit des Schwabens Lieblingskind sein Lieblinsspielzeug. Schade. Im Strümpfeladen, jetzt mit neuer Inhaberin, gab es noch immer die wunderbaren Herrensocken deutscher Markennamen. Geeignete Regenschuhe suchte ich vergeblich – noch nie war ich so gezielt durch die Schuhabteilungen verschiedenster Geschäfte gezogen. Na ja, vielleicht lag es daran. Am verkrampften Suchen. Wie einst Galerie-Freund Wilfried sagte: „ich suche nicht – ich finde“.

So, nun lasst es genug sein. Schnee und Eis auf den Strassen und Wegen hat das Vorwärtskommen nicht einfacher gemacht. Als Autofahrer habe ich gelernt, wie weit eine gefahrene Strecke – zum Beispiel von Brombach nach Stetten – ist, wenn sie mittels öffentlicher Verkehrsmittel oder mittels eigener Füße zu bewältigen ist. Dann ist gerade der Bus abgefahren. Bis zur Haltestelle des S-Bahn weiterlaufen – wie schnell ist dann eine weitere viertel Stunde vergangen. Wenn dann der Zug auch gerade abfährt, während ich mich auf dem falschen Bahngeleise befinde, dann geht das Spiel weiter. Zum Glück kommt der Taxifahrer vorbei und bringt mich für zehn Euro zu meinem Frisör. Ob er die S-Bahn merke? Ja, das spüre er schon – so etlicher Kunde fehle ihm nun. Auf der Rückfahrt mit dem Stadtbus versinkt eine alte Frau in meinem Gesicht mit den neu frisierten Haaren und träumt – vielleicht von ihrem gestorbenen Sohn, vielleicht an eine Zeit, die lange her ist und doch so präsent wie die Fußschmerzen oder das Rheuma. Doch der Moment geht schnell vorüber und wieder sitzt sie neben ihrer Busnachbarin und das Leben im Jetzt hat sie wieder. Der verzauberte Eindruck auf dem Gesicht der alten Dame ist verschwunden. Bei der Haltestelle beim alten Marktplatz steige ich aus.

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