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Eines der Adagia des Erasmus über den Krieg, Bellum dulce inecpertis, lässt sich in das volkstümliche Sprichwort übersetzen:
„Wer den Krieg preist, hat ihm noch nicht ins Gesicht gesehen“.
Wenn ich die Lobreden auf das Alter lese, an denen die Literatur aller Zeiten überreich ist, bin ich versucht, das Sprichwort des Erasmus folgendermaßen abzuwandeln:
„Wer das Alter preist, hat ihm noch nicht ins Gesicht gesehen."
Norbert Bobbio
Vom Alter – De senectute
Wagenbach Verlag, Salto 69, Berlin, 1997
ISBN 3-8031-1168-4
Friedels Tod
17. Januar 2001
23:20
Bald kommt die Visite – der Oberarzt mit Arzt und Krankenschwester- Sie hatte mich vorher gefragt, „was, und sie lebte noch bis zuletzt zu Hause“ und ihre Miene zeigt ihr blankes Entsetzen und ihre Hilflosigkeit, mir zu helfen, Friedel, Dir zu helfen. Der Oberarzt gibt mir nicht die Hand. Ein kurzer Augenblick der Starre. Ich gehe innerlich zurück und denke, nein, ich muss mit Dir nicht kämpfen. Einige Fachbegriffe fallen, Friedels Arme und Beine werden angeschaut, der rechte Arm und der linke Fuß sind verfärbt. Draußen, vor dem Zimmer sagt er mir, dass es ernst sei, „es kann zum Versterben der Patientin führen“. Die Worte sind äußerst fern und unklar, aber ich frage „Soll ich die Familie verständigen?“ und er sagt „Ja, das wäre sinnvoll“. Ich trage ihm einen dankbaren Händedruck hinterher – bei Traudel und Edith hätten wir uns deutlichere, frühere Worte gewünscht. Ich verständige per Handy Daggi, sie soll Gert Bescheid sagen, er soll kommen, heute noch.
Der Krankenpfleger ist freundlich, Gert wird ihn später „als eine Seele von einem Menschen“ bezeichnen, er bietet mir auch Kontakt zum Hospizdienst an – eine weitere Warnung, hilfreiche Signale – es geht zu Ende. Meine Nase riecht Leichengeruch, so wie zuletzt Edith, Daggis Mutter, gerochen hatte. Stundenlang riech ich es. Ich halte Friedels absterbenden Arm, ihre Hand. Sie bekommt Flüssignahrung, ein Urinbeutel hängt am Schlauch am Bettrand. Ein Mittel soll ihr helfen, dass das Blut flüssiger wird, Schmerzmittel helfen ihr, schmerzfrei oder wenigstens mit weniger Schmerzen zu leben. Zu sterben.
Ich nicke kurz ein, schrecke auf, denke, sie fühlt unten nichts mehr, haben sie ihr die Beine amputiert? Nein, Beine amputieren, das wollte sie nicht. Und halbseitig gelähmt, ohne Sprache, ein Pflegefall, auch das wollte sie nicht, auch das will sie nicht sein. Noch einmal führe ich einen Dialog, dass ich Dich pflege, dass ich Dir helfe, dass Du wieder gesund werden kannst, dass wir für dich da sind. Wiederholung alter, oft geführter innerer Dialoge, Nein, Du kommst nicht ins Heim, nicht von zu Hause weg.
Noch einmal hab ich die Hoffnung, Du seiest über den Berg, als ich nach ein paar Stunden den Leichengeruch nicht mehr rieche. Die letzte Fata Morgana. Der Pfleger hatte sorgenvoll die schwärzer werdenden Gelenke gesehen, linker Fuß, rechter Arm, „Jetzt liegt es an ihr", aber die zunehmende Verfärbung zeigt, dass das Ende kommt.
Zwei kurze Visionen: Mein Vater, Ernst Baumert, steht am Bett. Nur kurz, aber deutlich. Er ist da. Dann stehen drei Indianer da, sie sagen nichts, auch Ernst hatte nichts gesagt, aber sind da, um Dir zu helfen. Mich, uns zu begleiten.
Abends kommt Daggi mit dem Zug, nachts Gert mit dem Flugzeug und Zug. Die zweite kranke Frau im Zimmer wird hinausgeschoben, sie ist unruhig, vorher gab es noch einen Paravent als Schutz. Ich rufe Deine Nichte, Marieluise an, bitte sie, Deine Geschwister zu verständigen. Am nächsten Tag sind sie da, ich werde zunehmend unruhig, warum kommen sie nicht, Daggi sagt, ich solle nach Hause fahren, mich frisch machen. Ich zögere, gehe dann aber doch. Vor dem Krankenhaus kommen mir Leni und Helmut entgegen, mit je einem Blumenstrauß. „Bringst Du uns zu Deiner Mutter“ „Nein, ich gehe kurz duschen“. „Wie geht es ihr?“ „Mh, schlecht“. „Spricht sie noch?“ „Nein, sie spricht nicht mehr“.
Als ich eine halbe Stunde später wiederkomme ist die Familie um das Bett versammelt, auch Marieluise kommt gleich darauf. Zusammen beten wir das Vater Unser. Leni stockt, sagt „ich kann es nicht mehr“, Marieluise hilft ihr, Gert bricht zusammen, weint. Vorher fliehen wir noch in die Belanglosigkeit, gehen in die Cafeteria Kaffee trinken, der Pfleger fragt, ob er einen Pfarrer kommen lassen soll, die Letzte Ölung geben. Eine kurze Unterhaltung darüber, dass Protestanten so etwas nicht haben. Gert ist dagegen, ich dafür – Friedel ist und war gläubige Protestantin. Als Daggi dann in all der Trauer vorschlägt, das Vater Unser zu beten, ist es das richtige Wort zur richtigen Zeit. Das ist unser Gebet für Friedel.
Beide Geschwister verabschieden sich, Helmut küsst seine ältere Schwester Friedel, Leni streichelt sie immer wieder. Marieluise will wiederkommen, doch als sie am nächsten Morgen wiederkommt, findet sie nur ein zusammengeklapptes Bett – keine Friedel.
Das Team im Krankenhaus auf der Station ist sehr freundlich zu uns, fasziniert beobachten sie, wie die Familie Abschied nimmt. Große Sympathie umschließt uns. Der freundliche Pfleger lässt uns auch einmal zuschauen, wie Friedel auf eine andere Seite gebetet wird, dies geschieht so cirka im Zweistundenrhythmus. Der Blutverdünner wird abgesetzt, er könne zu Embolien bei so alten Patienten führen, sagt der junge Arzt. Der Krankenpfleger erbittet vom Doktor eine höhere Morphiumgabe „manche Tiere werden besser als Menschen behandelt“. Liebevoll kämmt er Friedel die Haare, immer spricht er mit ihr.
Mittwoch-Abend, nach dem letzten Pflegerbesuch kommen zwei Schwestern, sie sind neu und unfreundlich, mir passt es nicht, dass sie Friedel umbetten, sie verweisen auf die Notwendigkeit. Als wir wieder ins Zimmer kommen hat Friedel einen deutlich unfriedlicheren Zug um den Mund, erst Gert und Daggis Hilfe sorgen dafür, dass sie anders liegt. Ruhiger atmet. Die Krankenschwestern hatten schon gesagt, dass der Atem dann ruhiger wird, flacher.
Und so ist es dann auch, immer flacher wird er, dann Stille, wie beim schnarchen, sagt Daggi, und dann setzt ein Atmen ein. Wieder flach. Wieder Ruhe. Dann wieder Atmen. Daggi steht zu Deiner Linken, ich sitze zu Deiner Rechten und halte ununterbrochen Deine Hand, Deine kleine, absterbende, schwarze Hand. „Ich finde das schrecklich, wie das aussieht“ hatten Daggi und Leni am Nachmittag gesagt, ich darauf „Ich finde das nicht schlimm, der stirbt ab“. Gert steht über dich gebeugt. Ich habe die Augen zu, ein Glücksgefühl ist in mir, eine Ruhe, ein Segen. Dann ein Atemzug. Ruhig und klar. Stille. Ruhe. Gert drückt ihr die Augen zu, die sich ein wenig geöffnet hatten. Ich zu Daggi: "She´s Gone".
Gert weint, Daggi hat Tränen in den Augen. Eine wunderschöne Stille, Ruhe liegt im Zimmer, durchdringt alles, lässt uns lange so sitzen, denken, fühlen, ein paar Worte sprechen. Ich hatte den Eindruck, dass in den letzten Lebensminuten sie noch einmal fest meine Hand drückte. Wie gerne hätte ich diese kleine, schwarze Hand abgeschnitten, sie getrocknet und als Lebensamulett fortan um meinen Hals getragen. Doch weil unsere christliche Kultur dies verschmäht, habe ich es gelassen, Friedel hätte es befürwortet, das weiß ich, aber den sozialen Unfrieden danach verurteilt.
Irgendwann kommen die beiden Nachtschwestern herein, „so, wir kommen wieder zum umbetten“. „Sie ist gestorben, sie ist tot“. Sie werden stinkig, als sie erfahren, dass dies schon vor vielen Minuten geschah, Gert sagt ihnen die Sterbezeit, 23:20, sie sagen, sie müssen sie jetzt waschen, das Gesicht richten, eventuell das Gebiss hineintun. Nein, das wollen wir nicht, das Gebiss trug sie die letzte Zeit sehr ungern! Danach werde sie in den Keller gebracht. Sie sagt tatsächlich Keller und wieder sind wir erstaunt über soviel Unsensibilität. Ich bitte sie, den Raum zu verlassen, wir wollen noch einige Minuten bei ihr sein. Uns ist klar, die Maschinerie läuft jetzt an, die ruhige, selige Atmosphäre weicht einem hektischen Treiben. Das wäre zu Hause anders gewesen, aber ohne Arzt und Krankenschwester? Friedel hatte Daggi am Samstag am Telfon auf die Frage „wie geht es dir zu Hause“ geantwortet „im Krankenhaus ging es mir besser“. Friedel war keine Gegnerin des Krankenhauses, in Säckingen und später in Bad Säckingen war sie oft gewesen, in allen Krankenhäusern und sie war dankbar dafür und es ging ihr gut dort und wenn sie nicht mehr dort bleiben wollte, ging sie einfach. Diese Konsequenz hielt sie bis zum Schluss durch. Der junge Arzt kommt, bestätigt den Tod. Wir teilen ihm die Todeszeit mit. Wir nehmen unsere Sachen, Friedels Sachen und gehen. Gert sagt „Tschüs Friedel“. Die Blumen lassen wir dem Team, den jungen Arzt bitte ich, dem Krankenpfleger einen Dank für die freundliche Sterbebegleitung auszurichten.
Am Montag, dem 22. Januar 2001 erhält Friedel eine christliche Beerdigung auf dem Waldfriedhof in Bad Säckingen.
In einem halben Jahr wird auf dem Grabstein stehen:
†
Ernst Emil Baumert
* 5. Juni 1906 † 15. Juni 1969
Friedel Baumert
* 20. April 1912 † 17. Januar 2001
Am Todestag ihres Vaters starb eine große Seele. Am 28. Januar wurde in der evangelischen Stadtkirche Bad Säckingen die Todestafel verlesen.
Mir schickte Friedel noch einen Traum:
Wir sind auf dem Speicher in Bad Säckingen. Wir öffnen ein Fenster hin zur Straße. Auf der Straße läuft Gerti, Friedels Freundin, sie hält an und schaut hoch zu uns. Friedel dreht sich zu mir an meine rechte Brustseite und sagt „gell, ihr nehmt mich mit“. Als ich aufwache spüre ich, dass an dieser Stelle ein dunkles Loch geschlossen wurde und zum ersten Mal seit langer Zeit weine ich tief und lange.
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