Indische Reisenotizen
Wie der Grundton der Deutschen, der des schlechtgelaunten ist, so ist das Grunderscheinungsbild der deutschen Kinder, das einer quengelnden, nörgelnden Masse, das sich an den Kaufhauskassen dieser Republik in den Einkaufswägen ihrer Mütter trifft, um zu zeigen, dass sie die Lektion des Babysitters von Pro Sieben verstanden haben: jammer soviel und so laut Du willst – Hauptsache Du konsumierst. Ich würde schwören, dass ich in all den Woche in Indien kein einziges schreiendes Kind erlebt habe. Vielleicht ist es übertrieben, vielleicht habe ich einige Kinderschreier ausgeblendet, alle Kinder dieser Welt schreien dann und wann. Aber – und darauf kommt es mir an – der Grundton der Kindheit in Indien ist der von Lachen, von gemeinsam spielen, von glücklicher Vertrautheit mit Vater und Mutter. Nicht umsonst kommt die indische Babymassage von Herrn Leboyer aus Indien. Ich weiss, dies steht in völligem Kontrast zu den Bildern, die wir Betroffene hier in unseren europäischen Fernsehkanälen sehen, die Kinder als Opfer, eingepfercht in dunkle Verliesse der Arbeit, dunkle Schatten unserer Industriegesellschaft: die Kinder von Indien nähen die Sportschuhe für die Kinder von Deutschland.
In unserem missionarischem Eifer gegen die Kinderarbeit in Indien (und anderswo) wollen wir alle Gesellschaften dieser Welt beglücken mit unserem Modell der industrialisierten Gesellschaft und in dem Kampf gegen Kinderarbeit kommt unser ganzer Hass auf die
nachindustrialisierte Gesellschaft des Westens zum Ausdruck. Der Fahrkartencomputer soll besser sein, als der Junge im Bus, der die
Fahrkarten verkauft. Der tumpe Konsument, der zwischen SAT 1 und RTL-Gameshow umherzappt, sommers auf Teneriffa, die Phillippinen oder Gomera fliegt, um danach wieder den Anstieg der Ozonwerte zu beklagen, soll weltweit zum Vorbild einer Jugend ohne Arbeit werden. Dass die Arbeit der Kinder in unseren Lernfabriken oft nichts an Stupidität dem derer in indischen Teppichknüpfmanufakturen nachsteht, darüber will der political Korrekte der 90er Jahre nicht sinnieren. Und so überkommt mich bei all den Aktionen gegen Kinderarbeit auch ein leichter Schauer, wenn ich denke an all die Kinder, denen ich begegnet bin, an den Marktständen, am Strand, auf der Strasse. Und ich erinnere mich an jenen Jungen, der mir in Dehli nachlief, wollte, dass ich Postkarten kaufte, – wunderschöne übrigens, die all die indischen Göttinnen kopulierend mit ihren Göttern darstellte, in tausend Variationen, eine göttliche Orgie in Farbe, die in solch krassem Widerspruch steht zu dem des indischen Alltags – und ich genervt abwinkte und er nicht locker lies und er dann aufgab und voller Verachtung sagte „Du bist so reich“, und damit meinte und Du willst mir keine meiner wunderschönen Postkarten abkaufen, mit deren Erlös meine ganze Familie heute und morgen gut leben könnte, dass ich all meine westliche Borniertheit erkannte, erschrak und über mein Genervtsein und meinen Geldbeutel zückte – und einen Freund gewann.
Und so ging es mir mit dem Mädchen in Misore, das uns nachlief uns begleitete, vor unserem Hotel wartete, und so ging es mir mit dem jungen Rikshafahrer vor dem Bahnhof in Agra, der uns dann zum wunderschönen Taj Mahal brachte, und wenn ich daran denke, habe ich den Eindruck, ich müsste sofort nach Indien, sie wieder suchen, jene Kinder Indiens, die mir ihre Freundschaft schenkten, als sei es die normalste Sache der Welt und die mich in der ersten Nacht nach unserer Rückkehr, alle in jenem badischen Schlafzimmer besuchten, hier im warmen übernachteten, eng aneinandergekuschelt, sichwärmenanmir, ichmichwärmenanihnen.
Ich schrieb von der Prüderie der Inder, die in so krassem Gegensatz steht zu den Figurengeschichten des Begehrens auf all ihren Tempeln, ihrer Kunst, ihren Batiken. Aber das stimmt nicht ganz. Mit welcher Freude erinnere ich mich an die indischen Frauen in ihren Saris. Da waren nicht nur die kessen Blicke, die die Dichte eines Kristalls hatten, während ich bei deutschen Ladys nur an die einer Glühbirnen mich erinnert fühlte, nein, hauptsächlich war es die wogende Weiblichkeit, die genüsslich das Fett all der Tage umherschleifte, schön umwoben im Sari, farbig und glitzernd, und der Stoff gibt gerade jenen Teil frei, den wir schamhaft versuchen zu verstecken: unsere Fettfalten. Hier, bei den dunkelhaarigen Schönen Indiens wird gerade der Blick auf sie gelenkt, wie magisch angezogen, damit unser Blick sich einlagert im Speck der reifen Jahre, abgesetztes Leben, verarbeitetes Leid, eingelagerte Freude. Nach dem tiefen Blick in die Augen, und damit die Seele der Menschen, kommt die fleischliche Lust, ganz metaphysisch verstanden – Hindus essen kein Fleisch.
Ja, ich habe vieles schätzen gelernt im fernen Indien. Das Berührungstabu ebenso, wie den Wert der Gesten, das Immervorhandensein der Heiligkeit, wie die Anwesenheit von Gerüchen. Bewege ich mich innerhalb deutscher Menschenmassen, scheint es meinen Mitmenschen ein innerer Trieb zu sein, ähnlich wie bei Schafsherden, sich aneinander zu reiben, sich anzurempeln, zu schupsen und zu stossen. In Bombay konnten wir durch Menschenmassen gehen, ohne vor irgendjemand berührt zu werden – da waren wir die Trampel, die unachtsam andere berührten, absichtslos und stupide. Während in Deutschland der Wert der Gesten im Zeitraffertempo abnimmt, verlangsamt er sich in Indien wie in Zeitlupe. Es ist ein Einüben in Gewahrsein, in Achtsamkeit, in Achtung. Während hier alles bedeutungslos wird, wird dort alles bedeutungsschwer, ohne aber niederzudrücken. Während im modernen Deutschland jeder junge Städter sein Bündel auf dem Rücken trägt, schön verpackt im modisch schwarzen Lederrucksäckchen, geht der Inder stolz und frei, afrikanische Frauen fallen mir da ein, auch sie stolz und frei – das Land am Abgrund.
Und dann: die Gerüche. Überall riecht es, es duftet, es stinkt, es lebt. Während unsere Kultur des Westens sich immer mehr zu einer aseptischen entwickelt, werden in Indien – und in den meisten von uns so stigmatisierten Ländern der 3. Welt – all unsere Sinne angesprochen, der Farbsinn und der Geruchsinn, ebenso wie der Hörsinn. Mal duftet es schrecklich nach Armut, dann kommt eine Schöne vorbei und sie webt Dich ein in ihren betörenden Duft nach frischen Früchten, immer Früchte, als wollte sie sich verwandeln in einen Baum der Früchte, von denen Du geniessen sollst und wenn der christlich sozialisierte jetzt an Adam und den Apfel denkt, weiss er, wo die Warnung lauert, die durchs sanfte Grün sich schlängelt. Bei jedem Schritt ein neuer Geruch, der von Kräutern oder Fischen, von Obst oder von Moder. Dazu all die Farben, die Pyramiden voller Gewürze, diese Farbenpracht, die mir unsere Jämmerlichkeit zeigt, unser graues Einheitsleben und jeder Markt in Indien ist schöner, als der in Deutschland, am schönsten war der in Misore, liebevoll haben die Marktfrauen eine Orange an die andere gestellt, biss dass sie zur Pyramide sich entwickeln, der Marktstand als Gesamtkunstwerk, das selbe mit Kartoffeln, Aepfeln and so on, and so on.
Sie sehen, jetzt bin ich wieder ins schwärmen gekommen und so könnte es weitergehen, ich könnte von Australien schwärmen, vor freakigen Sydney, könnte erzählen vom buddhistischen Thailand, in dessen Strassen die Anwesenheit von gelbbekleideten Mönchen zum Alltag gehört, so wie ich in meiner Kinderzeit mich freute, wenn ich die Mönche in ihren braunen Roben durch die Stadt schreiten sah – als ich dann als Jugendlicher zum Kirchenaustritt aufrief, erschienen sie mir nicht mehr so freundlich – und ich mich daran erfreute und als wir dann wieder in der sauberen, aufgeräumten Schweiz ankamen, ich ein Gefühl der Fremdheit entwickelte und mir meine kleine Welt am Hochrein so klein und erbärmlich vorkam und am Zürcher Hauptbahnhof ein einzelner, vereinzelter Mönch, dicht am Pfeiler sich „verdrückte“, eben: an den Rand gedrückt wurde, von all den jungen, hübschen Menschen in ihren bunten synthetischen Kleidern, es war Sonntag und sie kamen alle vom Skifahren und im Zugwagen hätte sich eine schöne Atmosphäre von Gemeinsamkeit entwickeln können, doch statt dessen nörgelte es bald, jeder versank wieder in seine vernagelte Innenwelt und gemeinsam entwickelten die Jungen, modernen Schweizer so etwas wie Hassgefühle gegen uns, die wir anders waren, von Ferne kamen, noch nicht und nicht mehr aber auch bald wieder diesen stieren europäischen Blick hatten, ich könnte auch schreiben: Schweizer Blick, aber das wäre nationalistisch, und das traue ich mich als Deutscher den Schweizern gegenüber nicht, da verweisen sie mich gleich in meine Schranken; als ich in Basel mal einen Parkplatz besetzte und ich mich verärgert zeigte, sagte der baselstädtische Fahrer einer grösseren Limousine nur verächtlich „sind sie Deutscher“ und das Fragezeichen war gar nicht mehr nötig, natürlich ist er ein Deutscher, zum Glück haben wir unseren Schlagbaum. Und jetzt könnte ich von meinen Versuchen erzählen, verschiedene Grenzen zu überschreiten, einmal in Stein-Säckingen überschwamm ich den Rhein und wurde polizeilich in Verwahr genommen, die Grenzen überschwimmen, das war nicht erlaubt und Jahre später erlaubten mir die Schweizer Zöllner nicht, unser Dreyecklandsmagazin ZITTIG ins helvetische Land zu bringen, es könnte ja Propaganda sein und als ich mich, damals noch in schöner langer Haarpracht, an der italienischen Grenze von der Schweiz nach Italien begeben wollte, lustig machte über das Machtbegehren der Zöllner, sie forderten mich auf, mich nackt auszuziehen und ich signalisierte einem von ihnen, ob er mich von hinten ficken wollte, da brauste er auf und sie verweigerten uns, offiziell wegen einem Küchenmesser im Kofferraum, also wegen Waffeneinfuhr, die Einreise. Doch diese Geschichten führen zu weit, sie führen über die Grenzen des Nationalstaates, und der ist bindend, aber unsere Gedanken sind verbindend, ein Delphin kennt keine Hoheitsgewässer.
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