DEB by Dagmar Perinelli

Herbstreise ins Dreyeckland – heuer ohne Elsass

Sonntag 24. Oktober 2010 bis Freitag 29. Oktober 2010

1. Dezember 2010

Heute haben Picollo und Donna Leone ein Huhn von Gino getötet. Zuvor hatten sie in der Küche eine Pfanne Würste aufgefressen.

Gestern, um 22 Uhr 08 kam ein fremder Kater durch die Katzentüre beobachtet von Shirkan, Felline und mir. Er ging direkt in die Küche und fraß. Zuerst ging Shirkan raus, dann Felline. Nach einigen Minuten war er satt. Im Salotto putzte er seine Pfoten gründlich. Nach einer viertel Stunde ging er wieder raus. Das Feuchtfutter war aufgegessen.

4. Dezember 2010

Hunkeler war im Theater. Im Basler Theater. Hunkeler versteht die Welt nicht mehr. Hunkeler versteht das Theater nicht mehr. Das Basler Theater.
Ob es angebracht war, nur die theaterkritischen Texte aus Hans Jörg Schneiders Roman vorzulesen – Emilio hatte so seine Zweifel.
Zweifel, Zweifel. Zweifelchips. Dem Rheinfelder Publikum gefiel es aber und Hunkeler hatte die Lacher auf seiner Seite.
Emilio war das zu trashig. Übersetzt würde das wahrscheinlich kleinbürgerlich heißen.

Das war für Emilio ein Lieblingswort. Wenn er sein neues Lebensumfeld beschreiben sollte – neu seit neun Jahren – dann beschrieb er es in der Antwort an einen anonymen (Wikipedia, ach nein, Wikileaks, Wiki und die sieben Freunde, fiel ihm ein) Fragesteller in seinem Gebiet so:
"Es ist schön, aber es leben hier zu viele Kleinbürger."

Seine Kleinbürgerkritik hatte einen ordentlichen Rüffel erhalten, als er die Worte von Jean Ziegler in einem Interview las.
Jean Ziegler, das linke, humane Gewissen der Eidgenossenschaft, einst im Nationalrat für die Sozialdemokratische Partei Genf, Bevollmächtigter der UN für Hungerfragen (nachschauen: richtiger Begriff) antwortete seinem Gesprächspartner:
"Was soll ich da, ein Kleinbürger aus Genf, dazu sagen?"

Dazu fiel Emilio ein, dass der dereinst den Che, den argentinischen Arzt und Revolutionär in Genf getroffen hatte, und der ihm gesagt hatte, er solle nicht mit ihm in die Wälder ziehen, sondern im Herzen der Krake leben und kämpfen.

Leben einzeln
Und frei wie ein Baum

Brüderlich
wie ein Wald
Schwesterlich

ist unsere Sehnsucht.

Nazim Hikmet
(weiblich korrigierte Version von Gisela Schleith)

Hans Jörg Schneider entschied sich gegen die kriminalistische Erzählweise. Nun ja. Sei’s drum.
Drum. So heißt noch immer die Tabakmarke vieler Selbstdreher (sorry, 19:42 Anruf Gino, der sich für die Karte bedankt und 19:00 Anruf bei Dagmar, im Schnee. Bleistift verlegt und mit Swiss-Bleistift fremde Gefühle. Fortsetzung folgt).

6.12.2010

Mittwoch. Es gilt früh aufzustehen. Wie alle Malocher. Sich einfügen in den Taktschlag der Großregion Basel. Der Twingo hat vereiste Scheiben.

Nebenan ein älteres Familienhaus. Vor dem Haus ein Anhänger mit Fotowerbung. Bau von Holz-Schwedenhäusern. Das Haus, vor dem der Anhänger steht, ist ein Steinhaus. Es ist nicht sehr ansehnlich. Nur der Dachstuhl ist neu – der könnte als Werbung in eigener Sache durchgehen.

Der Zimmermann auf Wanderschaft, oder sollten wir richtigerweise schreiben: auf Tramperschaft?, hatte vorgestern erzählt, dass er seit sieben Jahren der erste in seinem Landkreis sei, der die dreijährige Wanderschaft beenden werde. Sterben jetzt auch die Dachdecker aus?

Das rote Licht leuchtet auf. Benzin. Vor einer Renault-Werkstätte tanke ich. Auch hier gibt es keinen Service mehr. Der Kunde Königmuss zur Zapfsäule greifen, wie der Kunde Edelmann.
Weil ich aber gerne vom Tankwart bedient werde, bin ich dereinst immer in Riehen an die kleine Migroltankstelle gefahren. Es reichte
immer für ein paar freundliche Worte, die Scheibe wurde immer geputzt und Zeit zum Füße vertreten war auch noch.
Die Masse hielt derweil an der großen Tankstelle, direkt neben dem Zoll.
Doch für diesen Luxus reichte es nicht mehr und am Dienstag hatte ich es versäumt.
Die Dinger sind noch ungelenk, und so wird aus einem Zwanzig-Euro-Tanken ein Zwanzig-Euro-Ein-Cent-Tanken.
Die Frau an der Kasse ist unfreundlich – vielleicht weil ich mit einem Firmenwagen der Konkurrenz unterwegs bin?

Auf dem Parkplatz unterhalb des Krankenhauses stoße ich auf einen alten Parkscheinautomaten, der nur kleines Geld annehmen kann. Eine junge Frau ist sogar bereit, mir Geld zu geben (schenken? leihen?). Doch irgendwie geht es dann doch mit meinen Münzen.

Der freundliche Notar ist erkältet. Ein schöner Schal wärmt ihn. Ich getraue mich nicht, ihn zu fragen, ob ich ihn photographieren darf. Die Unterwerfungserklärung ist schnell vorgelesen und unterschrieben.
"Was wollen Sie jetzt machen?"
"JA, wenn wir es nicht verkaufen können, wird es wohl zur Versteigerung kommen."
Er wünscht mir eine gute Zeit und wirft zum Abschied einen langen Blick auf meine Leica.

Im Kaufhaus gelingt mir – zusammen mit der Verkäuferin und der Ehefrau am Telefon – die – wie sich später herausstellt – richtige Kosmetik zu erwerben.

Freundliche junge Damen öffnen gerade den schönen, schicken Krustladen. Sie müssen aber passen – von Ritzenhof haben sie das
Milchglasprogramm nicht mehr. Ich solle doch mal zu Müllermarkt gehen, die hätten im dritten Obergeschoss auch Ritzenhofgläser.

Schade, ich komme nicht mehr zu meinem Milchglas milk-milch-latte.

Bei einem der letzten echten Bäcker von Lörrach ersteh ich zwei Butterbrezel. Brezel von der Bäckerei Paul gehören zum Besten, was die Stadt zu bieten hat.

Ich kann mich allerdings an eine Reise in die Geburtsstadt meiner Mutter, Bad Wimpfen, erinnern. Dort aß ich mit Onkel Helmut, Tante Didi und Dagmar eine große Brezel – die war nun wirklich vom Feinsten, und dass sie doppelt so groß war – vielleicht sogar viermal so groß – wie heutige Brezeln- war kein Nachteil.

Altbuchhändler Wilfried Merkel hatte zwar vorgeschlagen, sich zu einem Croissant und Kaffee zu treffen, so gebrachten ihn die mitgeführteBrezeln zu Richtungsänderungen. Nicht überall wird es gern gesehen, wenn der Kunde Esswaren zum Selbstverzehr mitbringt. Die Inhaberin desCafés hatte aber nichts einzuwenden.

Die Stunde verging im angeregten Gespräch. Danach zeigte er mir noch das erworbene Haus mit Buchhandlung im Erdgeschoss und einem riesigen Keller. Des Buchhändlers Freude. Schon Patricia hatte mir gestern vorgeschwärmt, wie schön es sein, endlich Platz zu haben. Ich erinnere mich noch gut an die beengten Verhältnisse in den Geschäftsräumen des Rathauses Rheinfelden.
Dann wird es auch hier Zeit zum Gehen – das nächste Mal in Apulien und weiter geht’s gen Bad Säckingen.

Die Sonne scheint und ist für mich der dritte Tag goldenen Oktobers, heute aber am Hochrhein.
Der Blick fällt aufs alte Bauernhaus von Martin, in Beuggen, mit dem ich dereinst im sozialistischen Büro zusammenarbeitete. Ob er wieder in sein altes Elternhaus zurückgezogen ist? Zur Erkundung fehlt mir heute die Zeit.

In meiner Geburtsstadt steuere ich zuerst das Haus meiner Kindheit und Jugendzeit an.
Die Veränderungen halten sich in Grenzen. Der Garten ist jetzt mit einem Holzzaun abgetrennt und aus der Doppelglastüre im Erdgeschoss, der ehemaligen Baumert’schen Wohnung, wurde eine einfache Türe. Wie immer schaut die Bewohnerin der Wohnung im zweiten Stock aus dem Fenster und begrüßt mich herzlich. Ich werde später noch kurz bei ihr vorbeischauen.
Zuerst aber an den wunderschönen großen Nussbaum. Noch gehört das Grundstück mir, und so will ich, vielleicht zum letzten Mal, eigene
Baumert’sche Nüsse sammeln. Ende Oktober ist schon ein wenig spät, die Nüsse haben schon viel Feuchtigkeit abbekommen, und die grüne
Fleischschale um die Nüsse hat sich schon schwarz verfärbt, meist matschiges Fruchtfleisch.
Doch das Gras ist voll, und als ein kleiner Garteneimer voll ist, reicht es mir.
Frau Baumgärtel biete ich danach an, auch sie könne die Nüsse aufsammeln. Doch bei ihr höre ich wenig Begeisterung. Mein Rücken, mein Rücken.
Da kommt leider jene Sozialhilfeempfängermentalität zum Vorschein, die so alltäglich geworden ist. Anstatt sich zu bücken und Nüsse – vor
der Haustüre sic! – zu sammeln, werden diese, schon geputzt, vielleicht aus Kalifornien importiert, im Supermarkt gekauft.

Die Mieterin ist stolz – ihre Tochter hat ihr einen Holzfußboden in der Küche geschenkt, und das hebt die Stimmung beträchtlich. Im Wohnzimmer hängt noch immer der Kupferstich von Bad Säckingen, "von Ihrer Mutti", wie sie sagt, den sie von mir nach dem Tod unserer Mutter geschenkt bekam.
Von einer Hausbewohnerin erbitte sie auf meinen Wunsch hin, eine Plastiktüte – so kann ich die Nüsse sicher nach Hause tragen.

Das Grab meiner Eltern
Das Grab meiner Eltern

Immer wieder (geht die Sonne auf, Udo Jürgens) muss ich das Grab meiner Eltern suchen.
Die Richtung kenne ich, da der Friedhof an dieser Stelle auch ein wenig verändert wurde, die ungefähre Stelle. Und dochmuss ich jedes Mal suchen, etliche Grabreihen entlang gehen, bis ich die Baumert’sche Grabstätte finde.
Es ist ja genau genommen nicht die Baumert’sche Grabstätte. Mein Großvater und meine Großmutter väterlicherseits lagen an einem anderen Ort, mehr östlich. Doch meine Mutter hatte nach dem Tod ihres Mannes Ernst die Grabstätte nicht verlängert. Kein Wunder, da sie mit ihrer Schweigermutter nicht klar kam. Ich liebte als kleiner Junge die Oma – es war die einzige, die ich als Junge noch hatte. Sie gab mir nachmittags immer Butterbrote mit Zucker, und weil ich danach die Zähne nicht putzte, trug auch das dazu bei, dass meine Zähne nicht die von Brigitte Bardot sind.

Dafür ließ sie später nach 1992 den Namen meiner Schwester aufs Grab anbringen. Das passte nun nicht ganz zum Wunsch der Tochter, anonym begraben zu werden. Aber es war eine pragmatische Mutterentscheidung. Die Tochter wollte anonym begraben sein, ihr Gatte führte ihn 1992, nach ihrem Tod, aus und so liegt sie nun als Anonyme auf dem Neusser Friedhof.
Ihre Mutter hingegen gedachte acht Jahre an der Grabstätte ihres Mannes auch an die 1992 nach einer Operation verstorbenen Tochter Traudel (Edeltraud Elfriede).
Das Grab benötigt einige Reduzierungen. Ein kleiner Baum vermittelt zenbuddhistische Achtsamkeit. Alle weiteren Anpflanzungen sind unnötig.

Suzuki oder der vierteljährlichen Arbeit der das Grab betreuenden Gärtnerbetriebes geschuldet.

Seiten: 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7