DEB by Dagmar Perinelli

Herbstreise ins Dreyeckland – heuer ohne Elsass

Sonntag 24. Oktober 2010 bis Freitag 29. Oktober 2010

Es gibt noch viel zu erzählen. Erbgeschichten, unerfreuliche, die das Ehepaar an den Rand der Existenzkrise bringt und Fotos der Klassentreffen. 2012 ist es wieder soweit – zum sechzigsten. Meine Güte, mein Vater wurde 63, Christus kam nur bis Eboli.

"Du waisch jo gar nüt meh", ruft empört Uschi. Ja, ich gestehe, das ist alles lange her. 1967 im Herbst begann das Halbjahr in der Handelsschule, als zweites Halbjahr nach der Umstellung von Osterbeginn des Schuljahres auf den Herbstbeginn. Im Frühsommer hatte uns in der Volksschule noch unser junger Lehrer Preuss, sportlich schöner Mann, im Musikunterricht Srgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band begeistert vorgestellt. Dann trennten sich unsere Wege. Da ich schon die Aufnahme ins Gymnasium nicht geschafft hatte, sollte ich wenigstens in die Handelsschule gehen. Doch mein IQ war zu gering, es hagelte nur so von Sechsen, und mir blieb der normale Weg der Verlierer: Ich wurde der Klassenclown.

Bei Uschi Gabele am Fenster
Bei Uschi Gabele am Fenster

Mit einigen Jungs war ich von Anfang an in der Schule, so mit meinem Freund Bico oder mit Manfred, dem Sohn des Malers und auch mit Franz, dem Sohn des Bauern. Die ersten sechs (sieben) Jahre waren wir in einer reinen Jungenklasse, erst dann kamen die Mädchen dazu.

Manfred kam immer zu uns ans Haus und fragte, ob ich Zeit hätte. Natürlich – für ihn immer. Entdeckte meine Schwester ihn allerdings am Fenster, öffnete sie es und schrie:
"Rotfuchs, hau ab! Verschwinde!"

Ähnlich begegnet uns heute ein apulischer Nachbar aus München, der, wenn ich mit unseren Hunden vorbeikomme, schreit:
"Bisch widder mi Deini Viecher do? Schleich Di!"

Jetzt wird es aber Zeit, auf den Friedhof zu gehen. Den Altkatholischen. Uschi hat auch zwei Gebinde im Treppenhaus, und so machen wir uns auf den Weg.

Dann kommt die Hutmacherin, dann der Laden, in dem Uschi einen Secondhandladen machte. Erfolglos? Da, war das Schallplattengeschäft, in dem ich meine erste Platte kaufte (Jan und Kelt?).

Da war Fahrrad Leirer. Bei ihm ließ ich immer mein Fahrrad reparieren. Jahre später rief er mich im Jugendzentrum in der Rheinbadstrasse empört zu:
"Von Ihnen, Herr Baumert, lasse ich mir meinen Sozialismus nicht kaputt machen!"
Freund Thomas Herberg hatte die ‚Kommunistische Volkszeitung‘ des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands (KBW) ans schwarze Brett gehängt, und Walter Leirer, der als SPD-Stadtrat zum Jugendzentrums-Beirat gehörte, kam an einer Sitzung, bei der es um die Autonomie des Jugendzentrums ging, an eben diesem schwarzen Brett am Eingang vorbei und riss die Zeitung vom Brett.
Zum ersten Mal gelang es uns, nicht Gute und Böse voneinander zu trennen. Wenn die Stadt keine Selbstverwaltung ohne Zensur zulasse, dann, so entschied später der Vorstand einstimmig, trete der gesamte Vorstand zurück. Damit endete – war es 1973? Oder 74? – die freie Phase des ersten Säckinger Jugendzentrums, dessen Eröffnung wir nicht nur unserer vereinten Kraft der Jugend verdankten, sondern auch dem
CDU-Bürgermeisterkandidaten Günther Nufer, der den jungen Menschen ein Jugendzentrum versprach, wenn er zum Bürgermeister gewählt würde.

Der Weg geht weiter. Links ist Kater Hiddigeigei, die Gaststätte. Dann kommt der Schlosspark. Im Pavillon saß ich dereinst und las in Ruhe die Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung, Stuttgarter Nachrichten etc. pp.
All gone. Lange her.

Dieter liest Zeitung
Dieter liest Zeitung

"Und hier", sage ich und deute nach rechts, "haben wir unser Vietnam-Teach-In mit Out of Focus gemacht." Dort hinten. Da war die Gärtnerei Fränkel. Mein Freund Helmut hatte dort im Oberstübchen den alten Projektor aufgebaut, den sein – war es sein Vater, sein Onkel, sein Großvater? – dereinst in Obersäckingen benutzte, als er das dortige Kino bespielte. Auch meine Versuche, die Säckinger Kinolandschaft zu retten, misslang.

Am erfolgreichsten war noch meine Kinemathek im Jugendzentrum. Von den "Kindern des Olymp" bis zu "Monterrey Pop Festival", von Erwin Leisers aufklärerischen Filmen über den Nationalsozialismus bis zu Charly Chaplin, von "Orpheo Negro" bis zu Carlos Sauras zeigten wir anspruchsvolle Filme.
Jahre später mit meinem Leiterwagen, darauf der Projektor, den mir Stefan Paul aus Tübingen lieh (und den ich nie zurückgab und Jahre später für Schulden für das Culturhaus Lörrach dem Vermieter Jakobsche überließ. Sorry Stefan.) und den aktuellen Filmen, zum Beispiel "Leonard Cohen – Songs from a Room", kam kaum ein Mensch.
Mit Stefan Paul zusammen zeigten wir noch einige gute Filme, auch im Lörracher Hirschenkino, "The Cream – The last Concert".
Der Lörracher Kinobetreiber war fitter als die Krotts aus Säckingen, obwohl das alte Säckinger Kino in der Innenstadt eine besondere Klasse hatte. Dort sah ich die Karl May-Filme und in der Wochenschau die Berichte über die Bravo-Tournee der Beatles in Deutschland.
Aber auch der Lörracher Kinobetreiber konnte den Untergang des Kinos nicht aufhalten.
Alte Haudegen, wie die Wehrer Kinobesitzerin hielten noch dagegen, und sie war es auch, die uns in den frühen Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts ermöglichte, in ihrem Kino Rockkonzerte durchzuführen, wie das von Brian Auger (ein späterer Freund von Werner Gabele) oder – das einzige ausverkaufte war das von Alexis Korner.

Dann sind wir am Gabeleschen Grab, richtiger an den Gabeleschen Gräbern. Ob Werner sich da wohlfühlt?

Dann durch den Schlosspark weiter. Eine schöne Kuppel im Stil des Olympiastadion von Frei Otto in München schützt Konzertgäste vor Regen. Letztes Jahr, erzählt Uschi, war Peter Kraus da. Und Uschi hat hier auch schon beim Trompeter von Säckingen mitgespielt.

"Ja, und da vorne saß ich mal nackt auf der Säule vor Dir."
"Und was habe ich gemacht? Wenn was, dann war ich wohl sehr besoffen."
"Du hast mich angeschaut."

Dann weitere Schritte. Hier war einst die Stadtbibliothek.
"Hier habe ich meine Karl May-Bücher ausgeliehen", sage ich, doch die Damen drängen weiter, und so kann ich nicht mehr sagen, dass später in der Stadtbibliothek besonders fasziniert hatte, dass gleich am Eingang der Bibliothek die Protokolle der Kriegsverbrecherprozesse von Nürnberg lagen!

Der Minigolfplatz, auch zu unseren Jugendzeiten ein Treffpunkt, wurde neu renoviert, bezahlt von den Bürgern der Stadt. Die Büsche und Bäume beim Gallusturm sind aufgelichtet. Das Verspielte, Dunkle, Heimliche unserer Jugendtage ist verschwunden. Hier standen einst Bim und Doris und drückten sich ihre Spritzen in ihr Liebesleben. Bim ist vor Jahren schon an Leberzirrhose gestorben.
Hier knutschten wir uns heimlich, dort saßen wir im Café und tranken Kaffee und aßen Kuchen oder im Sommer Eis.
Die Treppe runter an den Rhein. Rechts geht’s nach Wallbach. Einst schwammen wir hier im Rhein. Wir Jungs holten uns hinter den Büschen und Bäumen einen runter, und unterhalb der Treppe unter dem Heiligsten, der Park der Säckinger, vögelten wir im Sommer.
Neben der längsten überdachten Holzbrücke Europas ist jetzt ein Betonponton. Da dürfen junge Leute im Sommer sitzen.
"Graffiti an die Wand schmieren, das sollten sie halt nicht", sagt Uschi G.

Da wohnt Maler Dietz, da wohnte Architekt Frank.
"Ja, mit dem habe ich 2000 gesprochen. Da wollte er die Pläne vom Marienhaus, die mein Vater gemacht hatte. Es kam dann der Sohn von ihm und hat sich im Keller meiner Mutter die Mappe rausgesucht."
"Lebt seine Schwester, die Frau Frank noch?"
"Das weiß ich nicht."

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