Herbstreise ins Dreyeckland – heuer ohne Elsass
Sonntag 24. Oktober 2010 bis Freitag 29. Oktober 2010
Ich fahre vom Waldfriedhof in die Innenstadt.
In meiner Erinnerung steht an jeder Strasse ein gelbes Telefonhäuschen. Nicht die Erinnerung trügt, sondern die Wirklichkeit. Es steht nicht mehr an fast jeder Strasse eine gelbe Telephonzelle. Ich parke in der Güterstrasse. Das war ein paar Jahre lang mein Schulweg zur Schule, zur Hindenburgschule.
Freundin Ruht Zimmermann wird mir wenige Wochen danach mitteilen, dass eine Initiative aus Schwörstadt eine Namensänderung herbeiführen will.
Meinem Webemeister Marco Schwarz [dem Webdesigner!] habe ich vorgeschlagen, dass wir uns am Mittag im Bahnsteig Fünf zum Wurstsalat treffen können. Leider hatte ich im Sommer im apulischen Olivenhain mein Handy verloren, und so war auch das umfangreichste Telefonverzeichnis im Nirwana verschwunden. Und vor Ort stellte ich fest, dass ich die Telefonnummer von Marco Schwarz nicht gespeichert hatte.
Was lag näher, als in den Bahnsteig Fünf zu gehen. Doch Schreck! Die angeschlagenen Öffnungszeiten signalisierten eine Öffnungszeit erst nach sechzehn Uhr. Doch die Türe war geöffnet und das Wirtepaar anwesend. Changierend zwischen Misstrauen, Interesse und Ablehnung sahen sie mich an:
"Verzeihung, haben Sie ein Telefonbuch?"
"Ja."
Der Wirt holt es und reicht es mir. Doch ich finde keinen Schwarz, Marco. Ich erkläre meinen Misserfolg. Dann frage ich noch:
"Haben Sie noch die guten Bierstengel?"
Und der Wirt antwortet:
"Nein, gerade nicht."
Er erinnert mich an mich als Buchhändler, der auf die Frage, "Haben Sie das XYZ?" antwortete: "Ach, gerade nicht." Oft besorgte ich das Buch dann, doch der Suchende hatte längst anderswo sein Glück gemacht, seine Ware erstanden, sein Buch gekauft.
Bahnsteig Fünf ohne Bierstengel. Das ist wie die Güterstrasse ohne den alten Herrn Schnapsmutter. Wie er mit seinem Dackel die Strasse entlang geht – einmal hatte der Dackel mich als Schuljunge gejagt, aber ich war ihm glücklich entronnen – und dann hinter dem großen Tor seiner Villa verschwindet. Später wohnte dann dort in einem Neubau an der Stelle, an der früher die Schnapsmutter’sche Villa stand, die Mutter der Freundin meins Bruders, Ilse Schatz.
Also weiter in Richtung Innenstadt. Am Bahnhof finde ich kein Telefon, dann halt rüber zur Post. Auch da nicht. Ich spreche eine junge Frau an, und sie verweist mich an eine Telefonstation neben dem ehemaligen PorzellanhausWeissenberger. Doch die moderne Ladestation funktioniert nur mit Karte und ein Telefonbuch gibt es auch nicht.
Nebenan war einst Photo Vieweg. Das war der Photograph meines Bruders. Dort lies er immer seine Filme entwickeln und seine Photoabzüge machen.
Also weiter über die Bergseestrasse – heißt sie so? – auf die andere Seite. Da stand bis etwa 1970 eine alte Villa. Wunderschön. Die Villa wurde dann irgendwann abgerissen. Mehrere Tage stand sie offen, und die Bürger durften sich im Inneren umsehen, auch Teile mitnehmen. Man hätte die ganze Inneneinrichtung mitnehmen sollen – es war ein wunderbarer bürgerlicher Wohnstil. Hatten wir nicht davon geträumt, in unseren Heidelbeerweinsitzungen im Café Busch das Haus zu besetzen? Aber wir hatten auch davon geträumt, das Haus im Schlosspark zu besetzen und hatten es nicht getan.
Dereinst hatten meine Großeltern dort gewohnt, und viele Jahre später feierte Christines Mutter dort im Café ihren 70. Geburtstag. Gert konnte noch jedem sagen, wo das Schlafzimmer, das Wohnzimmer der Großeltern war.
Buchhandlung Wallbiner
Also weiter gen Süden. Vor der Buchhandlung der Frau Wallbiner komme ich darauf, in der Buchhandlung am Gallusturm nach der Telefonnummer von Marco Schwarz zu fragen. Ich bin Kunde und habe auch für Marco Schwarz schon Bücher bestellt. Leider findet sich keine Telefonnummer im elektronischen Bestellsystem der Buchhandlung. Aber ein Blick in das örtliche Telefonbuch hilft. Schwarz, Marco, Wallbach, MSO-Webdesign 07761xxxx.
Beim Hinausgehen sehe ich im Schaufenster Bücher eines neuen Verlages, darunter das Rom-Buch von Piere Paolo Pasolini. Ich frage nach einem Verlagsprospekt. Die Angestellte muss die Chefin holen. Ob ich in einer halben Stunde wiederkommen könne, sie schaue im Büro nach.
"Ja, ein neuer Verlag."
Dann endlich auf der Strasse das Telefongespräch mit Marco.
"Ach, Scheiße, es ist heute? Ja schade. Ich wollte auf eine Beerdigung gehen von einer Frau, mit der ich in der Hundegruppe war."
Das geht logischerweise vor, und wir verabreden uns im Ungefähren.
Jetzt kann auch Ruth Zimmermann anrufen. Sie ist unterwegs und ziemlich gleich steht sie da. Ein herzlicher Empfang, und die kommenden Stunden verfliegen im Nu. Wir tratschten wie die Markgräflerinnen, die, wenn sie sich bei uns in Apulien treffen, reden und reden ohne Ende und plötzlich erlebe ich das auch, dass eine Erinnerung sich an die andere fügt und manfrau ganz
aufgehoben ist im Damalsjetzt.
Ein viertel Jahrhundert Lebensgeschichte. Kindheit und Jugend.
Danach ein viertel Jahrhundert Lebensgeschichte in Lörrach! Jugend und Erwachsenwerden.
Welch ein Unterschied! In Säckingen kenne ich niemanden, den ich treffe, außer Ruth und Uschi. In Lörrach begegne ich während weniger Stunden x Menschen, die ich kenne. Aber in Säckingen ist jede Gasse, jede Strasse voller Erinnerungen. Da war früher unser Jugendzentrum. Da war das Café Stocker. Da hat Mletzko uns immer frisches Sauerkraut aus dem Holzfass verkauft. Im Kaufhaus Groß & Hammer waren all die rebellischen Dekorateure.
Harry, später Lehrer in Tüllingen und Mitstreiter der Grünen. Clown.
Reformhaus Mletzko
Thomas Herberg, Schlagzeuger bei Out of Focus, Freund und Mitgenosse im Sozialistischen Zentrum, Jugendzentrum, Sozialistischen Bund, Mitarbeiter in der Laufenburger Druckerei Hablützel.
Gerda Walter, Velosolexfahrende werdende Mutter, der ich eine Monate nahe sein durfte.
Lehrling Harald ?, mit dem wir die meisten des Kaufhauses genossen und mit ich trampend die Mädchen auflas und mit dem wir auch die Liebe unter Männern schätzen lernten.