DEB by Dagmar Perinelli

Herbstreise ins Dreyeckland – heuer ohne Elsass

Sonntag 24. Oktober 2010 bis Freitag 29. Oktober 2010

Nur ein paar Meter weiter. Foto Forstmeyer. Hier lernte ich drei Jahre lang die Photographie. Während ich im Pariser Mai 68 noch in der privaten Handelsschule Merkur von Frau Küchle war, Küchle Backoplaten, FAZ-Lektüre, Rockband, Coca-Cola-Verkäufer, die Flaschen gekühlt in einem Waschbecken unter fließendem kalten Wasser, Rockband. Vollsuff nach Einladung bei meiner Lieblingslehrerin, der Freund zog mich mit dem Schlitten nach Hause, doch der Arzt musste trotzdem kommen und den Magen auspumpen und ich war doch noch fit genug für einen eigenen Orgasmus, im Sommer kam dann the magical mystery tour der Beatles im Bayerischen Fernsehen, danach gab es im August Jugendrotkreuzferien auf Korsika.
Das Essen in dem Lager war für uns Säckinger Jugendliche eine Katastrophe, doch ich war noch zu jung, um mit Freund Werner Kiefer und noch einem anderen Freund zusammen auszubrechen. Vielleicht lagt es an den engen Tänzen abends in der Disco, als wir zu A Whiter Shade of Pale von Procol Harum zärtlich tanzten.

Die Chefin des Ladens hilft sofort, als ich erzählte, dass ich meinen Film aus Versehen in die Filmrolle zurückspult habe. Mit einem Metallband kann sie den Film herausholen. Ihr Blick fällt auf meine Leica, und sie bekommt eine leichte Schrägfalte. Ich kenn das. Als Buchhändler habe ich das oft erlebt. Ich bemühe mich und suche nach einem Titel im Verzeichnis lieferbarer Bücher, schreibe es auf und gebe die Information einem Kunden. Er bedankt sich und ward nie mehr gesehen. Das war vor der Einführung des Internet, vor Amazon und Co.
Ich sage:
"Ich war hier auch mal Lehrling."
"Ach ja", ihre Gesichtszüge entspannen sich.
"Ich wohne jetzt in Süditalien. Darf ich die Visitenkarte mitnehmen?"
"Ja, natürlich."

Eine viertel Stunde später komme ich mit Ruth durch den zweiten Eingang, den Südeingang.
Ruth: "Guten Tag. Ich habe hier mal gearbeitet."
Stefanie Riese: "Ach ja, zwei ehemalige Forstmeyer-Mitarbeiter."
Ruth: "Nein, ich habe hier im Juweliergeschäft xx gearbeitet. Mein Chef hat die Scheibe mit der Alarmanlage einbauen lassen."
Die Atmosphäre ist aufgelockert.
"Ach ja, dann haben Sie auch Peter Finzer gekannt?"
"Ja, natürlich", sagt Ruth.
Und ich: "Ja, ich habe mit Willi Oswald zusammen die Lehrzeit verbracht."
Sie strahlt erstaunt und sagt:
"Ja, er soll ja jetzt gar nicht mehr im Fotostudio sein, sondern sich um die Firma Moonlight kümmern."
"Ja, seine Frau ist ja Geschäftsführerin des Fotostudios. Darf ich Sie photographieren?"
"Ja, natürlich."
Dann gehen wir, und die Herzlichkeit ist groß.

Ruth vor dem Foto-Forstmeyer
Ruth vor dem Foto-Forstmeyer

Hier führte ich die Lehrlingsfegeaktion durch, als Protest dagegen, dass Lehrlinge die Strasse fegen müssen.
"Wenn Du am Samstag an dieser Aktion teilnimmst, dann brauchst Du am Montag nicht mehr kommen", sagte mir mein Chef Rolf Forstmeyer zuvor. Da ich Organisator der Demo war, konnte ich schlecht wegbleiben. Wir sahen uns dann vor dem Arbeitsgericht wieder und vereinbarten, dass ich die Lehre im Betrieb zu Ende machen konnte. Die alternative Rheinfelder Stadtzeitung des Club Libertas berichtete damals darüber.

Ein paar Meter weiter ist ein schönes Café. Da stand einst der VW-Bus von Beate Klarsfeld, die dem NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger hinterherfuhr, nachdem sie ihn als Bundeskanzler geohrfeigt hatte.

Ich hatte in meinem hölzernen Keller aus Styropor ein Hakenkreuz ausgeschnitten und schwarz angemalt. Der Bundeskanzler kam nach
Säckingen, und ich wollte ihn an seine unselige Vergangenheit erinnern. Doch kaum hatte ich das Hakenkreuz hochgehalten, da schlugen es mir die Säckingerinnen aus der Hand. Wollte sie den Protest verhindern oder dachten sie, dass ein junger Nazi das Emblem ihrer Väter (oder ihr eigenes?) hochhielt? Ich weiß es nicht. Für mich war es, wie Asyl finden, neben Beate Klarsfeld zu stehen.

Später machten wir eine Aktion im Wehrer Kino. Acht junge Leute saßen in einer Reihe. Kiesinger auf dem Podium.
Nun heben sieben junge Männer ihre Schilder hoch:

Wir wollen unseren
Kanzler Kiesinger
wieder haben.

Lächeln. Wohlwollen.

Dann hebe ich mein Schild hoch:
Nazi-

Das Lächeln erstirbt, Kiesinger tobt. Aufregung. Ordner kommen. Sie werfen uns raus.

Aktion gegen den Paragraphen 218
Aktion gegen den Paragraphen
218 am Münsterplatz

Auf dem Weg zur Nazijägerin
Auf dem Weg zur Nazijägerin
Beate Klarsfeld auf dem Münsterplatz
Säckingen

Wir gehen ein paar Schritte weiter.

"Hier der Markt", sagt Ruth, "den wollte die Stadt
verlegen, weil es immer so windig ist. Aber das ist nicht richtig. Eine Stadt braucht ihr Zentrum und der Münsterplatz ist das Zentrum der Stadt."
"Ja, natürlich."
"Und dort habe ich meine Vietnamdemonstration gemacht", sage ich,
"Von dort oben in der Wohnung habe ich vom Schulfreund Franz Malzacher Strom bekommen."
Ein paar Schritte weiter.
"Und hier habe ich mit Thomas Herberg Unterschriften gesammelt gegen den Paragraphen 218."
Ruth:
"Und hier hat Werner Gabele gespielt mit seiner Band, auch ich war da."

Die Drogerie gibt es natürlich ("natürlich") nicht mehr, doch dann kommt rechter Hand gleich das Gabelesche Anwesen.
Links die Polizeistation. Da befreite mich dereinst der Brombacher Friedensaktivist Manfred Loritz, indem er eine Strafe für mich bezahlte (wegen wilden Plakatierens) und mich so vor dem Knast in Säckingen bewahrte.
Vor dem Knast in Hechingen konnte er mich dann nicht bewahren, schließlich wurde ich als Fahnenflüchtiger bei Mutter abgeholt und mit Zwischenstop in Lörrach und Freiburg nach Hechingen gebracht, wo ich 1975 einige Wochen einsaß. Als der Staatsanwalt vier Wochen Haft beantragte, kommentierte ich wunderfitzig:
"Dann bekomme ich ja noch zwei Wochen zurück."

Das Haus der Gabeles liegt direkt an der Strasse, und die Klingel logischerweise auch.
Ich: "Komm, wir klingeln."
Ruth: "Nein, das können wir doch nicht tun."
Ich: "Doch, das kann man!"
Gesagt getan, Ich klingle. Eine Stimme ertönt.
"Ja?"
Es ist die Stimme von Uschi Gabele.
"Hallo, Wir sind’s. Ruth und Dieter. Ruth Zimmermann und Dieter Baumert."
"Ja, so eine Überraschung. Kommt rein."

Durch den dunklen Hausflur steigen wir in den ersten Stock empor. Eine Hündin kommt uns entgegen, freut sich ohne Unterlass, springt an mir hoch und leckt mein Gesicht ab. Uschi Gabele, die ja richtigerweise seit ihrer Heirat Gabele-Griesser heißt, schimpft ihre Hündin an.
"Benimm Dich!"
Herzliche Begrüßung.
"Kaffee"
"Ja, danke. Und ein Glas Wasser."

Danach sind wir ganz bei ihrem Bruder Werner Gabele, der letzten Sommer verstarb. Es gibt viel zu berichten vom Tod, die Autopsie ergab, dass er einen Tumor hatte.
Wochen später fallen mir zwei Mails von Werner in die Augen. Mails.

Dann zeigte Uschi ihre Pressesammlung von Out of Focus und erzählt noch einmal ihre Geschichte mit Thomas Herberg, ihrer damaligen großen Liebe. Vater Herberg, Lehrer zu Säckingen, hatte sich bei Karlsruhe vor den Zug geschmissen und war gestorben. Die BILD-Zeitung hatte darüber berichtet, in dem üblichen widerlichen Ton der Missachtung jeglicher Menschenwürde, und hatte den rebellischen Söhnen die Schuld am Freitod ihres Vaters gegeben. Uschi Gabele arbeitete damals in der Volksbank. An diesem Morgen kam der Chef der Bank herein, knallte die BILD-Zeitung auf ihren Schreibtisch und schrie:
"Mit solchen Menschen verkehren Sie!"

Ja, sonntags in der kleinen Stadt,
Sonntag in der kleinen Stadt
(Degenhardt Lied)

Wundert es, wenn ich sage, dass der Volksbankchef ein guter Freund meiner Eltern war?

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